Glaesener Helga
zupfte.
»Noch nichts von dem Jungen gehört?«, fragte Cecilia.
Er schüttelte den Kopf, und sie verließ das Zimmer, weil sie den Eindruck hatte, dass sie ihm aufdringlich vorkam. Sie fühlte sich schäbig – da brach dem alten Mann das Herz, und sie nötigte ihn dazu, eine Decke zu weißen. Besser als hungern, würde Rossi wahrscheinlich sagen. Dennoch …
»Und kein Schritt in die anderen Räume«, befahl Irene mit ihrer hohen, scharfen Stimme. »Man kennt das doch – die Finger hier und dort.«
»Irene!«
Die Zofe war beleidigt, als Cecilia sie zu sich zitierte und sich ihre Einmischung verbat. »Adolfo ist ein ehrlicher Mann, es ist nicht recht, ihm etwas zu unterstellen.«
»Wie Sie meinen, Signorina.« Irene knickste steif und zog sich ins Schlafzimmer zurück, wo Cecilia sie Stühle rücken hörte. Das Geräusch wurde unterbrochen vom Ton der Hausglocke. Mit immer noch gekränkter Miene ging Irene zur Tür.
Rossi schob sie unhöflich beiseite. Er nickte Cecilia zu, dann war er auch schon zwischen den Eimern und Laken im Speiseraum. »Abate Brandi war bei mir.« Cecilia, die ihm gefolgt war, sah, wie Adolfo gemächlich die Leiter herabkletterte und den Pinsel über den Eimer legte. Er wischte die Farbe an seinem Kittel ab und ließ die Arme hängen. Eine Geste der Demut, die im völligen Widerspruch zum Starrsinn in seinen Augen stand.
»Ein alter, glatzköpfiger Mann in einer grünen Jacke und eine Frau auf einem Pferd … Das hätte ich gern erklärt«, fuhr Rossi ihn an.
»Ein alter, glatzköpfiger Mann«, wiederholte Adolfo und schaute mit einem schmalen Lächeln zu der schäbigen Jacke, die er über der Stuhllehne abgelegt hatte. Grüne Wolle. »Wie viele glatzköpfige Männer mag es geben, Giudice?«
»Und wie viele Frauen, die dabeistehen, wenn Saboteure zündeln?«
»Die Welt ist verdorben.«
Rossi mochte es nicht, wenn man ihm dumm kam. »Was bildet ihr euch ein, du und Francesca? Dass die Mönche ihre Marmorbecken in den Sumpf werfen, weil ihnen aufgeht, dass sie mit ihren Thermen nicht jedermanns Begeisterung wecken? Ihr zerstört fremdes Gut. Ein Gut, das dem Granduca gehört, wenn ich das nebenbei bemerken darf. Aber darum geht es nicht …« Adolfo wollte auf die Leiter zurück. Aufgebracht packte Rossi ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum.
»Es geht um das Gesetz . Will das nicht in deinen Schädel? Dieses, unser Land steht an einer Wende. Mann …!« Rossi hob die Hände, um eindringlicher argumentieren zu können. »Zum ersten Mal seit Menschengedenken muss ein Richter eine juristische Ausbildung besitzen. Begreifst du, was das heißt? Nicht mehr der Adel führt das Richtschwert, sondern Leute, die Jahre ihres Lebens damit zugebracht haben, die Gesetze zu studieren. Die Prozesskosten wurden herabgesetzt. Arme Leute wie du haben das Recht auf einen Pflichtverteidiger …«
»Macht unsereins nicht satt.«
»Das Gesetz ist bindend für jedermann, und der Granduca beugt sich den Entscheidungen seiner Kriminalgerichte. Das ist eine Sensation. In anderen Ländern kämpfen sie mit ihrem Blut darum – uns wird es freiwillig gegeben. Wir haben einen Herrscher, der uns in eine neue Zeit trägt, in der die Menschen gleich sind.«
»Hungert der Granduca auch?«
Rossi ließ die Arme sinken. »Es geht langsam voran, Adolfo, ich weiß. Und das Gesetz ist nicht vollkommen. Es humpelt, es hustet, es lässt zu, dass Leute ihre Arbeit verlieren, damit andere es sich gut gehen lassen können. Aber dieses Gesetz hat auch dafür gesorgt, dass Tante Elvia zwanzig Skudi Entschädigung bekommen hat für ihre Hütte, die zum Sumpf hin abgesackt ist, und dass Marios Mörder sich verstecken muss und dass sich das öffentliche Interesse darum kümmert, wohin Leo verschwunden ist. Du hast die Zeiten miterlebt, als das nicht selbstverständlich war.« Adolfo streifte seine Hände ab und nahm den Pinsel wieder auf.
»Ich sehe nicht dabei zu, wie ihr das kaputt macht, Adolfo. Der Granduca ist ein großer Mann, aber auch nur ein Mensch. Wenn ihr ihm Grund gebt, an seinen Visionen zu zweifeln … Er will uns helfen. Er glaubt, dass wir Rechte haben müssen. Aber das Eis ist noch dünn …«
Der alte Mann erklomm die Leiter und begann erneut, mit kraftvollen Zügen zu streichen.
Den Nachmittag dieses Tages brachte Cecilia damit zu, Dinas Kleider in Koffer und Kisten zu packen, ihre Hutschachteln zu füllen und die Reifröcke in Stoffbahnen zu wickeln. Eigentlich wäre das Irenes Aufgabe gewesen, aber die Zofe
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