GLÄSERN (German Edition)
beugte sich über mein Gesicht. Ich hörte Kierans Stimme, rau vom Rausch, doch beherrscht und klar: »Und ich tue es noch. Steh nicht andauernd auf der falschen Seite, Van Sade.«
Ich hoffte, er war betrunkener, als er sich anhörte. Noch ehe ich darüber genauer nachdenken konnte, überrannte mich der Schlaf wie eine Herde Hochlandrinder.
Geweckt von eisigen Tautropfen , die in meinen Nacken rannen, torkelte ich in den ersten Sonnenstrahlen durch das Gehölz, dem Gluckern einer – wie ich hoffte – sauberen Quelle entgegen. Zwischen verklebten Augenlidern erkannte ich stattdessen einen kleinen Brunnen, an dem Kieran stand und sich eilig den Oberkörper wusch. Im Zwielicht war seine Haut so totenbleich wie meine, und ich war etwas eifersüchtig auf seine drahtige, muskulöse Statur. Das lange Haar hielt er im Nacken mit einem Band zusammen. Während er sich säuberte, vermied er es angestrengt, dem Wasser näher zu kommen als nötig, schöpfte das Eiswasser mit der Hand, wobei ihm beinahe alles wieder durch die Finger rann, noch ehe es sein Gesicht erreichte. Verständlich, da auch er die voyeuristische Veranlagung der Lady kannte – und sie ebenso fürchtete wie der Lord.
Von Lord Sandy fanden wir keine Spur mehr. Zwar dachte ich, er hätte sich lediglich ein paar Schritte weiter niedergelassen, dennoch antwortete er weder, noch fanden wir ihn oder sein ranziges Gepäcksstück. Wir entschieden uns also dazu, ohne ihn weiterzureisen. Als wir jedoch ein wenig später die tote Wurzel erreichten, wo zuvor noch die Rappen angebunden gewesen waren, blieben wir wie erstarrt stehen. Dieser Wald war wirklich vermaledeites Hexenwerk, denn Wagenräder und Gefährt bis zu den Fenstern war von einer dicken Schicht Moos nahezu überwuchert. Und ich kann dir versichern, geehrter Leser, ich verwende hier keine Allegorie. Damit nicht genug, lagen die tobenden Rappen in dem Gewächs halb in den Boden geflochten und konnten sich auch unter größter Anstrengung nicht aus ihnen befreien. Panisch bäumten sie sich auf, um sofort wieder schnaubend darnieder zu sinken. Stumm vor Entsetzen waren wir unfähig, in dieser grotesken Szenerie zu handeln. Giniver bekam prompt einen hartnäckigen Schluckauf. Beide Kutscher rissen uns beinahe um, als sie an uns vorbei zu den Tieren rannten, um sie mit Messern und bloßen Händen aus ihrem Elend zu befreien. Weit mehr als ein Augenblick war nötig, um das dicke Moos zu entfernen.
Einer der Kutscher stellte bald das Fehlen eines Rappen fest. Nun bot uns also der Wald nicht nur eine Kostprobe seiner Zauberkunst durch dieses Schauspiel, zusätzlich hatte Sandy sich eines unserer Transporttiere bemächtigt. Demzufolge war es möglich, dass bei seinem überstürzten Aufbruch gen Mitternacht nur wenig Moos gewachsen war, oder war gar Sandy selbst in der Lage, eine solch mächtige Zauberei zu wirken wie die der Naturmagie? Niemand praktizierte diesen alten Brauch heutzutage noch, nicht einmal die Engländer. Vielleicht um sich einen Vorsprung zu verschaffen? Beides glaubte ich kaum. Wozu auch. Oder hatte Lady Amaranth etwas damit zu tun? Und wenn ja, wozu? Schließlich hatten wir doch alle das gleiche Ziel. Wie auch immer, es blieb keine Zeit mehr für Spekulationen. Die Sonne stieg schnell, wir mussten uns sputen. Das kalte blaue Morgenlicht hier im Norden erinnerte mich an jenes Zuhause und rief mir in Erinnerung, dass wir nicht aus der Welt waren, auch wenn es momentan so schien. Die Kutscher schirrten den siebten, nun überflüssigen Rappen ab. So konnte Kieran, der den Weg von der Insel bis hierher wandernd zurückgelegt hatte, mit uns Schritt halten.
»Verfluchtes Hexenwerk. In diesem Wald ist doch alles verteufelt«, murmelte der Jäger. Er hasste es nach wie vor, in einem Häuschen auf Rädern zu reisen, und mit einem fehlenden Hengst an der Personenkutsche gestaltete sich die Reise nun bestimmt viel langsamer. Wir fluchten noch ein wenig über den Verlust und setzten dann unseren Weg so eilig wie möglich fort.
Ab und an ritt Kieran ein wenig voraus, um den Weg zu begutachten oder etwaiges bettelndes Gesindel fort zu schimpfen. Ich hingegen konnte meine Lektüre nicht genießen und spähte unruhig nach dem Lord mit dem bläulichen Bart. Giniver lag ausgestreckt auf der gepolsterten Bank gegenüber und blickte versonnen in das Licht dort draußen, das die Welt wie unter Wasser erscheinen ließ. Ihr rundes, ruhiges Gesicht gab mir immer ein Gefühl von Sicherheit und Heimat. Einmal mehr
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