GLÄSERN (German Edition)
sie ist heute in anderer Form zu mir gekommen.« Er wandte sich ab und eine Träne rann an seinem grauen Gesicht hinab. »Ich hoffe doch, du hast dich entschieden, wieder zu unserem Gut zurückzufahren, Lil´.«
Er klang hoffnungsvoll und ich bemitleidete diesen alten Mann dort in seinem Sterbebett. Als Eirwyn etwas sagen wollte, hob er forsch die Hand. »Was nun auch kommen mag, ich habe nicht einmal mehr Angst. Ich bin es überdrüssig, dass ihre grässlichen Kräuter an mir keine Wirkung zeigen.«
Einer seiner Ärmel rutschte zurück und wir erkannten bereits leicht vernarbte Schnitte an den Innenseiten der Arme, ähnlich denen, die Kieran für immer auf der Brust tragen musste. Mit sichtlicher Anstrengung dehnte Hektor den feuchten Hemdkragen und offenbarte noch einige davon, welche die Haut um das Schlüsselbein verunzierten.
Eirwyn keuchte auf. »Sie ist eine Sadistin, Vater! Und du sagst mir trotzdem, sie liebt dich? Wie kannst du das denken, nach all dem hier!«
Der Graf sah sie mit einem Mal scharf an. »Georgina ist nicht mehr die Frau, die ich einst heiratete, Lil´. Und das weiß sie ebenso gut wie ich. Es klingt für dich verrückt, du bist so jung, doch sie kann nicht anders. In ihrem Kopf hat sich, wie es scheint, mehr als nur ein Hauch von Wahnsinn eingenistet … Was sie denkt, ist für sie real. Und für niemanden sonst.« Er legte seine Hand auf die seiner Tochter und sah mich an. »Sie war so schön und liebenswert, Frederick. Ihre innere Schönheit ließ sie strahlen wie die Sonne. Eine gute, gütige Seele, die stets das Kostbarste war für mich.«
Eirwyn nahm seine Hand fort und legte ihre Finger auf seine Stirn. »Vater, ich nehme dich mit mir. Kieran ist auch hier. Er wird sich gemeinsam mit mir um dich kümmern und bald geht es dir wieder besser …«
Hektor brachte seine Tochter erneut mit einer beschwichtigenden Handbewegung zum Schweigen.
Müde strich sie ihm eine graublonde Strähne aus dem Auge. »Aber Vater, er sagte, er ist bereit …«
»Ich bin sehr müde. Es ist schön, dass ihr gekommen seid. Aber ich brauche noch etwas Ruhe.«
Eirwyn, sichtlich entsetzt, dass Graf Hektor sich keinerlei Sorgen um sich selbst zu machen schien, nickte mechanisch. Wir erhoben uns und wandten uns zum Gehen.
»Wann soll ich wieder zu dir kommen, Vater?«, fragte Eirwyn fiebrig.
»Besuche mich morgen gen Nachmittag, dann ist es am klarsten in diesem alten Kopf. Vor allem habe ich schon seit Tagen keine Mittelchen mehr nach zwölf Uhr bekommen. Du solltest zusehen, dass das auch so bleibt. Die neue Maid Servant ist ein tumbes Gör. Und Frederick …« Ich verharrte in der Bewegung. »… bitte, versuchen Sie nie wieder etwas zu torpedieren, wovon Sie nichts verstehen.« Er winkte lasch mit einem Stück Papier in meine Richtung. Ich erkannte seine krakelige Schrift darauf, einen angefangenen Text. Ein erster Entwurf des Briefes an den Sohn seines alten Freundes. »Sie sollten lernen, sich selbst ein Ratgeber zu sein und nicht zu zweifeln. Auch als ein Bediensteter nicht.«
Schuldbewusst senkte ich den Kopf. Dennoch bezweifelte ich, dass ich jemals entgegen dem Befehl meiner Herrin handeln würde, so seltsam er auch sein mochte. Die Stärke, die ich noch auf dem sterbenden Lord Sandford in mir gefühlt hatte, war erneut meiner ohnmächtigen Schwäche gewichen, die mich wie mein eigener Geist begleitete, seit meine Mutter mir leidlich erfreut in der zugigen Gasse unten im Dorf ein klägliches Leben geschenkt hatte.
Damit waren wir beide entlassen. Eirwyn schloss die Tür und fixierte mich fragend mit loderndem Blick. Zögernd gestand ich ihr die Unterschlagung seines Bittbriefes an den Jäger.
»So hat wohl jeder hier seine Geheimnisse«, meinte sie nur und wandte sich von mir ab. Ich folgte ihr langsam und in einigem Abstand zurück in den Salon; jeder von uns ein Sklave seiner obskuren Gedanken.
Wenige Stunden später, als die Sonne rubinrot unterging, traf ich frisiert und herausgeputzt am Fuß der Stiege ein, wartete auf meine Lady, um sie in den Speisesaal zu geleiten. Sie tauchte gleich einer Nebelgestalt wie aus dem Nichts auf und lächelte mir zu. Winzige Eiskristalle schienen in meinem Herzen zu schmelzen. Sie schritt zu mir hinab und reichte mir ihre feine Hand, die ich eilig umschloss und deren lange Finger ich wie ein Süchtling küsste. Eirwyn traf gleich nach uns ein und ließ sich von Kieran begleiten, der mich so spöttisch und abfällig ansah, als müsse er sich sogleich
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