Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
sich um die Interessen des jungen Lucien von Rubempré handelte, für den ich eine besondere Liebe hege, deren Motive heilig sind, wollte ich versuchen, das arme Geschöpf von dem Wege abzubringen, auf den die Verzweiflung es führte: ich wollte ihr sagen, daß Luciens letzte Schritte bei Fräulein Klotilde gescheitert seien; und durch die Nachricht, daß sie sieben Millionen erbe, hoffte ich, ihr den Mut zum Leben zurückzugeben. Ich bin überzeugt, Herr Richter, daß ich das Opfer der mir anvertrauten Geheimnisse war. Nach der Art, wie ich zusammenbrach, denke ich mir, daß man mich schon am Morgen vergiftet hatte; aber die Kraft meiner Konstitution hat mich gerettet. Ich weiß, daß mich seit langem ein Agent der politischen Polizei verfolgt und mich in irgendeine schlimme Angelegenheit zu verwickeln sucht ... Wenn Sie in der Stunde meiner Verhaftung auf meine Bitte einen Arzt hätten kommen lassen, so hätten Sie den Beweis für das erhalten, was ich Ihnen in diesem Augenblick über meinen Gesundheitszustand sage. Glauben Sie mir, Leute, die höher stehen als wir, haben ein heftiges Interesse daran, mich mit irgendeinem Verbrecher zu verwechseln, um sich meiner mit Recht entledigen zu können. Man gewinnt nicht immer dabei, wenn man den Königen dient, sie haben ihre Schwächen; die Kirche allein ist vollkommen.«
Es ist unmöglich, das Spiel der Gesichtszüge Jakob Collins wiederzugeben; er brauchte mit Absicht zehn Minuten zu dieser Tirade, die er Satz für Satz aussprach; alles war so wahrscheinlich, besonders die Anspielung auf Corentin, daß der Richter schwankend wurde. »Können Sie mir die Gründe Ihrer Liebe zu Herrn Lucien von Rubempré anvertrauen?« »Erraten Sie sie nicht? Ich bin sechzig Jahre alt, Herr Richter ... Ich flehe Sie an, schreiben Sie dies nicht nieder ... Es ist ... Ist es unbedingt notwendig? ...« »Es liegt in Ihrem Interesse und vor allem im Interesse Lücken von Rubemprés, daß Sie alles sagen,« erwiderte der Richter. »Nun ... o mein Gott! ... Er ist mein Sohn!« fügte er mit Anstrengung hinzu. Und er wurde ohnmächtig.
»Schreiben Sie das nicht auf, Coquart,« sagte Camusot ganz leise. Coquart stand auf und holte eine kleine Flasche Vierräuberessig. ›Wenn er Jakob Collin ist, so ist er ein großer Komödiant! ...‹ dachte Camusot. Coquart gab dem alten Sträfling den Essig zu riechen, während der Richter ihn mit der Helläugigkeit des Luchses und des Richters überwachte. »Man wird ihm die Perücke abnehmen lassen müssen,« sagte Camusot, während er wartete, daß Jakob Collin wieder zu sich käme.
Der alte Sträfling hörte diesen Satz und erbebte vor Angst, denn er wußte, welchen scheußlichen Ausdruck seine Züge dann annahmen. »Wenn Sie selbst nicht die Kraft haben, die Perücke abzunehmen – ja, Coquart, nehmen Sie sie ab,« sagte der Richter zu seinem Kanzlisten.
Jakob Collin streckte dem Kanzlisten in wundervoller Ergebenheit den Kopf hin; jetzt aber bot sein Kopf, dieser Zierde beraubt, einen grauenhaften Anblick dar; er zeigte seinen wirklichen Charakter. Dieses Schauspiel stürzte Camusot in eine große Ungewißheit. Während er auf den Arzt und den Krankenpfleger wartete, begann er all die Papiere und Gegenstände, die in Luciens Wohnung beschlagnahmt worden waren, zu ordnen und zu studieren. Nachdem die Justiz in der Rue Saint-Georges bei Fräulein Esther ihre Arbeit verrichtet hatte, war sie auf den Quai Malaquais gegangen, um ihre Nachforschungen auch dort vorzunehmen.
»Sie legen Hand an die Briefe der Frau Gräfin von Sérizy,« sagte Carlos Herrera; »aber ich weiß nicht, ob Sie fast alle Papiere Luciens haben?« fügte er mit einem Lächeln hinzu, dessen Ironie den Richter niederschmetterte. Camusot, der dieses Lächeln auffing, begriff in vollem Umfang, was dieses ›fast‹ bedeutete.
»Lucien von Rubempré steht im Verdacht, Ihr Mitschuldiger zu sein, und er ist verhaftet,« erwiderte er, denn er wollte sehen. welche Wirkung diese Nachricht auf seinen Untersuchungsgefangenen haben würde. »Da haben Sie ein großes Unglück angerichtet, denn er ist ebenso unschuldig wie ich,« versetzte der falsche Spanier, ohne die geringste Bewegung zu verraten. »Wir werden ja sehen; vorläufig handelt es sich noch um Ihre Identität,« bemerkte Camusot, den die Ruhe des Gefangenen überraschte. »Wenn Sie wirklich Don Carlos Herrera sind, so würde diese Tatsache die Lage Lucien Chardons auf der Stelle ändern.« »Ja, es war Frau Chardon, geborene
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