Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
›Dieser Bursche muß einen sehr starken Menschen hinter sich haben.‹
So war Lucien fast zu einer Persönlichkeit geworden. Seine Leidenschaft für Esther hatte ihm übrigens viel dabei geholfen, seine Rolle eines ernsten Mannes zu spielen. Eine derartige Gewöhnung schützt die Ehrgeizigen vor sehr vielen Dummheiten; da sie an keiner Frau festhalten, so lassen sie sich nicht durch die Reaktionen des Körperlichen auf das Geistige fangen. Was das Glück angeht, das Lucien genoß, so war es die Verwirklichung der Träume aller armen Dichter, die in einer Bodenkammer fasten. Esther, das Ideal der verliebten Kurtisane, erinnerte Lucien an Coralie, die Schauspielerin, mit der er ein Jahr lang gelebt hatte; aber sie löschte sie vollständig aus. Alle liebenden und hingebenden Frauen erfinden von neuem die Abschließung, das Inkognito, das Leben der Perle auf dem Meeresboden; aber bei den meisten unter ihnen ist es nur eine jener reizenden Launen, die einen Gesprächsgegenstand bilden, einen Beweis der Liebe, von dem sie nur träumen und den sie nicht geben; während Esther, die sich immer wie am Morgen nach ihrem ersten Glück bot und jederzeit wie unter Luciens erstem Liebesblick lebte, in vier Jahren keine Regung der Neugier empfand. Ihren ganzen Geist verwandte sie darauf, in den Grenzen des von der Schicksalshand des Spaniers vorgezeichneten Programms zu bleiben. Ja, noch mehr, mitten unter den berauschendsten Entzückungen mißbrauchte sie nicht die unbegrenzte Macht, die geliebten Frauen die wiedererwachenden Begierden eines Liebhabers geben, um Lucien eine Frage über Herrera zu stellen, der sie übrigens immer noch beängstigte: sie wagte nicht an ihn zu denken. Die klugen Wohltaten dieses Mannes, dem Esther auf jeden Fall ihre Klosterzöglingsanmut, ihr Benehmen als anständige Frau und ihre moralische Wiedergeburt verdankte, erschienen dem armen Mädchen als Vorschüsse der Hölle. »Ich werde für all das eines Tages zahlen,« sagte sie sich voll Grauen.
Während all der schönen Nächte fuhr sie im Mietswagen aus. Sie fuhr mit einer Schnelligkeit, die ohne Zweifel der Abbé anbefohlen hatte, in einen der entzückenden Wälder, die Paris umgeben: nach Boulogne, Vincennes, Romainville oder Ville d'Avray, oft mit Lucien, bisweilen allein mit Europa. Sie ging dort furchtlos spazieren, denn sie wurde, wenn Lucien nicht dabei war, von einem großen Leibjäger begleitet, der gekleidet war wie die elegantesten Leibjäger, bewaffnet mit einem wirklichen Weidfänger, und dessen Physiognomie und hagere Muskulatur auf einen furchtbaren Athleten deuteten. Dieser weitere Wächter war nach englischer Mode mit einem Stock bewaffnet, den man › baton de longueur ‹ nannte, der den Stockfechtern wohlbekannt ist und mit dem sie mehreren Angreifern standhalten können. Gemäß einem Befehl, den der Abbé erteilt hatte, durfte Esther mit diesem Jäger niemals ein Wort wechseln. Europa stieß, wenn die gnädige Frau nach Hause fahren wollte, einen Schrei aus; der Jäger pfiff dem Kutscher, der sich stets in gebührender Nähe hielt. Wenn Lucien mit Esther spazieren ging, blieben Europa und der Jäger hundert Schritte hinter ihnen zurück, zweien jener Höllensklaven gleich, von denen die Tausendundeine Nächte reden, und die ein Zauberer seinen Schützlingen mitgibt. Die Pariser und vor allem die Pariserinnen kennen den Reiz eines Spaziergangs in den Wäldern während einer schönen Nacht nicht. Die Stille, die Spiele des Mondlichtes, die Einsamkeit, all das hat die beruhigende Wirkung eines Bades. Gewöhnlich brach Esther um zehn Uhr abends auf; sie ging von Mitternacht bis ein Uhr spazieren und kam um halb drei nach Hause. Den Tag begann sie nie vor elf Uhr. Sie nahm ihr Bad und machte sich an jene sorgfältige Toilette, die die meisten Frauen in Paris nicht kennen, weil sie zuviel Zeit in Anspruch nimmt, und die fast nur von den Kurtisanen, den Loretten und den großen Damen geübt wird, denen der ganze Tag gehört. Sie war erst fertig, wenn Lucien kam, und bot sich seinen Blicken stets wie eine neuaufgeblühte Blume dar. Sie sorgte sich nur um das Glück des Dichters; sie war für ihn etwas, was ihm gehörte; das heißt, sie ließ ihm die vollste Freiheit. Nie warf sie einen Blick über die Sphäre hinaus, in der sie glänzte: der Abbé hatte ihr das streng anempfohlen; denn es entsprach den Plänen dieses tiefen Politikers, daß Lucien galante Abenteuer hatte. Das Glück hat keine Geschichte, und die Erzähler aller
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