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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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Jo sah mich jetzt verärgert an. »Beten, das sollen aufrechte Christen. Ihre Köpfe in Demut vor dem Herrn und seiner Schöpfung neigen. Aber ihn
anfassen
wie einen seltsamen Gegenstand, den man irgendwo gefunden hat?«
    »So ist es nicht, Tante Jo«, wandte Emily ein. »Es scheint, als habe sich der Junge irgendwie … in sich selbst verirrt. Seine Seele findet den Weg zum Licht nicht. Wir versuchen, ihr dabei zu helfen.«
    »Wie wollt ihr das machen?«
    »Emily und ich können … mit seinem Geist Kontakt aufnehmen«, sagte ich. »Es ist, als ob wir in seiner Welt sind. Ich meine, wirklich dort. Er ist auf der Suche nach einem ›Tor des Lichts‹, und wir helfen ihm, es zu finden.«
    Ein Schatten fiel über Tante Jos Gesicht. »Das Tor des Lichts … das klingt schön …«
    Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass sie Sehnsucht nach dem Tod empfand. Ein erschreckender Gedanke, aber gleichzeitig irgendwie auch tröstlich. In ihren Worten klang die Zuversicht an, dass der Tod nicht das Ende von allem war. Nach dem, was ich erlebt hatte, erschien mir der Gedanke nicht mehr so absurd wie noch vor ein paar Wochen.
    »Wir müssen wieder zu ihm«, sagte ich. »Ich muss nur schnell zum Auto, die … meine Jacke holen.«
    »Ich hatte gehofft, du würdest mir eine Ruhepause gönnen«, |245| sagte Emily, aber ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll.
    »Ich fürchte, Eric hat nicht mehr viel Zeit«, wandte ich ein.
    »Ihr solltet nichts überhasten«, sagte Tante Jo. »Mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten kommt man schneller voran als mit zielloser Hektik.«
    Sie hatte leicht reden. Ihr Sohn lag nicht an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Ich dachte an die kalte Leere, an das gehässige Lachen des Totengottes, und das Gefühl, dass ich mich beeilen musste, wuchs. Ich lief aus dem Haus zu dem alten Ford und holte zwei Kapseln aus der Plastiktüte.
    Als ich ins Haus zurückkehrte, war Emily mit Eric allein. Ich hielt ihr wortlos eine der Kapseln hin.
    Sie seufzte. »Also schön.« Sie nahm die Pille mit einem Schluck Wasser. »Lass uns ein bisschen spazieren gehen, bis es wirkt«, schlug sie vor.
    Ich war einverstanden.
    Wir gingen einen Weg entlang, der hinter dem Haus durch die Felder führte. Der Mais war noch jung, gerade hüfthoch. Die Luft war lau und duftete nach Sommer. Vögel jubilierten in den Sträuchern am Wegrand, und Insekten umschwirrten uns.
    Ich hatte plötzlich das Gefühl, eins zu sein mit dem vielfältigen Leben um mich herum. Es war, als könnte ich im Summen der Bienen, im Zwitschern der Vögel, im sanften Flüstern des Windes den ruhigen, gleichmäßigen Herzschlag des Universums hören. Ein der Situation völlig unangemessenes Glücksgefühl durchströmte mich.
    »Ich glaube, es ist so weit«, sagte ich. »Lass uns umkehren.«
    Emily kicherte plötzlich. »Diese Kapseln sind echt geil!«

|246| 27.
    Ich fiel.
    Ich hatte weder Arme noch Beine, keinen Mund und keine Lungen. Ich war nur ein flüchtiger Gedanke, ein winziger Lichtpunkt in unendlicher Dunkelheit, nicht einmal mehr in der Lage, Angst, Trauer oder Hoffnung zu empfinden.
    Dieser Zustand mochte Sekunden währen oder Jahre – Zeit spielte in dieser ewigen Dunkelheit keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle.
    Im Nachhinein stelle ich mir vor, dass so der Tod sein muss – das Einsinken in absolute Bedeutungslosigkeit. Nicht mal ein unangenehmer Zustand, doch mich schaudert, wenn ich daran denke.
    Nach einer unbestimmbaren Zeitspanne merkte ich, dass das Universum nicht völlig leer war. Vor mir war ein dünner, senkrechter Lichtstrahl erschienen, unendlich weit entfernt und so groß wie eine Galaxis. Ich schien darauf zuzufallen.
    Der Lichtstrahl weitete sich. Jetzt erkannte ich, dass es nicht nur ein Strahl war, sondern ein rechteckiger Rahmen aus Licht, dessen linke Kante deutlich heller strahlte als die obere und untere, während die rechte Seite kaum zu erkennen war.
    Mit einem Ruck veränderte sich mein Gefühl für Perspektiven. Ich begriff, dass der Lichtstrahl nicht Lichtjahre entfernt war, sondern nur wenige Meter, dass er nicht die Ausmaße einer Galaxis hatte, sondern die einer ganz gewöhnlichen Tür.
    |247| Ich hatte wieder Beine, auf denen ich stehen konnte, wenn auch etwas wacklig. Ich konnte wieder das dünne schwarze Gewand auf meiner Haut spüren. Ich streckte einen Arm aus und berührte eine glatte Wand. Offensichtlich stand ich in einem schmalen Gang.
    Mit klopfendem Herzen trat ich auf den grellen Lichtspalt zu. War dies

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