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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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am Eingang des graugestrichenen Hauses. Ein breitschultriger Mann in den Fünfzigern öffnete uns die Tür. Er hatte ein grobschlächtiges Gesicht, aber ein warmherziges Lächeln. Nachdem er Emily umarmt hatte – er kannte sie offensichtlich schon seit ihrer Kindheit –, zerquetschte er mir mit seiner mächtigen Hand fast die Finger. »Will kommen in Steephill. Ich bin George Derringer. Tante Jo ist meine Mutter.«
    »Anna Demmet. Danke, dass Sie uns helfen, Mr. Derringer.«
    »George, bitte. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn es jemanden auf diesem Planeten gibt, der sich gut um Ihren Jungen kümmert, dann ist es meine Mutter. Sie hat schon so manchen hoffnungslosen Fall wieder hingekriegt.« Er |242| grinste, als ob er sich an einige besondere Begebenheiten erinnerte. »Aber kommen Sie doch erst mal rein!«
    Er führte uns in eine geräumige Küche. An einem großen quadratischen Tisch saß eine Frau, die mit ihren roten Pausbäckchen und ihren freundlichen braunen Augen gut aus einer Fernsehwerbung für Bio-Lebensmittel vom Land hätte stammen können. Sie sprang auf. »Wenn das nicht meine kleine Emily ist!«, rief sie und umarmte meine Freundin lange. »Wo bist du die ganze Zeit gewesen, Kind? Dein letzter Besuch hier muss schon zwei oder drei Jahre her sein!«
    »Ja, Tante Jo. Ich hatte viel zu tun.«
    »Viel zu tun, soso. Das Leben in der Stadt macht einen schneller alt, habe ich dir das schon gesagt? Ehe du dich versiehst, bist du so grau wie ich, und dann ärgerst du dich, dass du nicht mehr Zeit hier verbracht hast, wo du zu Hause bist!« Doch es war kein Tadel in Tante Jos Stimme zu hören, nur die Freude des Wiedersehens.
    »Ich bin ganz zufrieden in New York«, rechtfertigte sich Emily.
    »Na, jetzt seid ihr ja jedenfalls hier.« Sie begrüßte Maria mit derselben Herzlichkeit. Dann wandte sie sich mir zu. »Sie sind also Anna. Emily hat mir erzählt, dass Sie Ihren Sohn aus dem Krankenhaus befreit haben. Richtig so! Die Ärzte glauben heutzutage viel zu oft, Gott ins Handwerk pfuschen zu müssen. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Ich habe nichts gegen Schulmedizin. Aber mit Maschinen kann man eben nicht alles heilen. George, Ronny, lasst uns den Jungen ins Haus holen.«
    Tante Jos Sohn und einer ihrer vermutlich zahlreichen Enkel, ein kräftiger Bursche mit krausen nussbraunen Haaren, trugen Eric vorsichtig aus dem Auto und legten ihn auf eines von zwei Betten in einem gemütlich eingerichteten |243| Gästezimmer. »Sie können hier bei ihm schlafen, wenn Sie möchten«, sagte George zu mir.
    Ich war überwältigt von Dankbarkeit. Diese Menschen halfen, ohne Fragen zu stellen. Emily hatte recht: Eric war hier in guten Händen.
    Tante Jo erschien. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie meinen reglos daliegenden Sohn. »Was habt ihr nun vor? Wollt ihr warten, bis er wieder aufwacht? Ein guter Bekannter von George ist Arzt im Krankenhaus in Huntingdon. Er könnte ihn bitten, mal nach dem Jungen zu sehen. Nur zur Sicherheit.«
    »Nein, nein, das ist nicht nötig«, sagte ich. »Wir … wir kommen schon klar.«
    Tante Jo warf mir einen langen Blick zu, in dem Missfallen zu liegen schien. Sie spürte, dass ich nicht offen zu ihr war, und das, obwohl ich ihre Gastfreundschaft in Anspruch nahm. Ich kam mir schlecht dabei vor.
    »Tante Jo, du … du erinnerst dich doch, als ich die Katze von Mrs. Moreaux gefunden habe …«, sagte Emily.
    »Die in die Felsspalte gefallen war? Ja, natürlich erinnere ich mich. Das ganze Dorf war in Aufregung. Na ja, eigentlich war es die arme Mrs. Moreaux, die alle so verrückt gemacht hat mit ihrer Sorge. Sie ist ja jetzt auch schon, lass mich nachdenken, zwölf Jahre tot. Jedenfalls warst du die Heldin des Tages.«
    »Weißt du noch, dass ich dir damals erzählte, wie ich sie aufgespürt habe?«
    »Du sagtest, du konntest ihre Seele sehen. Und ich habe dir geglaubt. Obwohl der alte Reverend Schuster immer behauptet hat, Tiere hätten keine Seelen. Aber der hat sowieso viel Quatsch geredet. Und warum sollten Tiere auch keine Seelen haben? Schließlich sind sie Geschöpfe Gottes wie wir.«
    |244| »Ich kann auch die Seele dieses Jungen sehen. Ich kann sie berühren.«
    Tante Jo machte ein erschrockenes Gesicht. »Das … ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Emily! Die Seele ist ein Teil von Gott. Sie zu berühren, heißt Gott berühren!«
    »Was ist so schlimm daran, Gott zu berühren?«, fragte ich. »Ist es nicht das, was jeder aufrechte Christ tun soll?«
    Tante

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