Glashaus
über das er heute noch ebenso andächtig staunen konnte wie damals.
Vier Monate später - die Unruhen. Wasserwerfer, Tränengas und schreiende Studenten auf den Straßen, Soldaten die in langer Reihe aufmarschierten, niederknieten und wahllos in die Menge feuerten. Blut das die Rinnsteine hinab floss. Fettig, rötliche Schlieren, die sich in den Gullys verloren.
Er rannte – irgendwohin, Hauptsache weg von da. Zwei Soldaten, die ihn zu fassen bekamen, verprügelten und auf einen Lastwagen verluden.
Das Gefängnis: eine Hölle aus Beton, Maschendraht, Prügel und Durst. Jeder war allein, jeder war sich selbst der Nächste. Zwei, drei Monate bis er sich angepasst hatte, zu einem Tier unter Tieren geworden war, dazu verurteilt in einem Betonkubus lebendig zu verfaulen.
Licht, das plötzlich brennend durch den dünnen Schleier seiner Augenlider drang. Er stellte fest, dass ihm Tränen die Wangen herab gelaufen waren.
„ Younas.“
Er schlug die Augen auf. Aziza unfassbar fremd wie sie da in der Tür stand.
„ Ich war nicht auf der Universität. Ich habe kein Diplom, das mir beweist wie klug ich bin. Aber ich weiß trotzdem wer ich bin. Ich weiß, was ich mir und meiner Tochter schuldig bin. Ich kann nicht einfach so weitermachen Younas. Ich kann einfach nicht jeden Tag in die Gesichter der Leute sehen und dabei ganz genau wissen, dass diese vier Tiere nicht bestraft worden sind.“
Younas dachte an den Glatzkopf der ihn, den Mund voll Dönerkraut, hinausgeworfen hatte. Younas dachte an die alte Frau mit ihrem Käsebrot, die vom Hund ihres Nachbarn berichtete.
Younas dachte an Sertabs Blick, gestern Nacht. Younas dachte daran, wie Aziza ihn damals an der Bushaltestelle vorm Gefängnis erwartet hatte.
Younas dachte an seinen Vater, der ganz allein gestorben war. Younas dachte an die Wüste und daran, dass ein einzelnes Sandkorn nichts war, aber eine Düne stark genug, um nach und nach Tausende von Hektar guten Landes zu ruinieren.
„ Younas – ich WILL nicht gehen. Hörst Du? Aber ich kann auch nicht bei Dir bleiben, solange Dir nichts Besseres einfällt als stumm in Deiner verdammten Ecke hocken zu bleiben.“
Was nützte ihm sein Glaube an Recht und Gesetz in diesem Land, wenn Aziza und Sertab gingen? Und lag nicht Wahrheit in dem was sie sagte?
Was waren schon die paar Jahre Gefängnis, die sie diesen vier Tieren aufbrummen würden, gegen das, was ihre Verachtung und Arroganz den Träumen und Hoffnungen seiner Familie angetan hatten? Sein Leben lang war er klaglos bereit gewesen den Preis für seine Träume zu zahlen. Und er hatte für sie bezahlt. Für manche sogar doppelt und dreifach. Zählte das gar nichts?
Younas dachte an die Wüste, an deren Rand er aufgewachsen war. Daran, dass sie kein Mitleid tolerierte und daran, dass die Welt ihren Anfang nicht in den sanften Wellen eines warmen Meeres genommen hatte, sondern aus dem Zorn einer Explosion geboren worden war.
„ Ich weiß.“
Younas sah Aziza zum ersten Mal wieder direkt in die Augen. Doch er hielt es nicht lange aus und blickte gleich darauf wieder an ihr vorbei zur Küchenwand.
Da war dieser Mann, damals im Gefängnis. Er war ein armer Bauer, irgendwo aus einem Nest ohne Kreuz und Namen auf der Landkarte. Er hatte seine gesamte Familie bei einem Busunfall verloren und war danach mit einer Feldhacke ins Hauptbüro der Busgesellschaft marschiert, wo er drei Angestellten die Köpfe einschlug, und zwei weitere schwer verletzte, bevor er sich still und entschlossen der Polizei stellte.
Nach zwölf Jahren wurde er entlassen. Doch er kam nach weniger als einer Woche zurück. Lungerte vorm Gefängnistor herum und verkündete er hätte keinen Ort mehr zu dem er gehen könnte, außer das Gefängnis. Irgendwer bestach irgendeinen Bürokraten und der Mann wurde als Hilfswache im Gefängnis eingestellt. Von diesem Tag an, war er glücklich. Nacht für Nacht zog er nun mit einem groben Schlagstock aus Holz in der Hand seine Runden durch die Stille des Gefängnishofes.
Ein Schritt: PLONG. Er ließ den Stab auf den Boden krachen, weitere zwei Schritte: wieder PLONG.
Es gab immer noch Nächte in denen Younas aus dem Schlaf schreckte, weil er sicher war dieses PLONG gehört zu haben.
Noch etwas war an dem Mann mit dem Stock gewesen, das Younas nie vergessen konnte: „ Mein Blut ist röter “, hatte er geantwortet, als ihn einer der Wärter eines morgens fragte, WIESO er damals getan hatte, was er getan hatte.
War Sertabs Blut röter als das
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