Glashaus
Inneren tauchten Bilder aus einem fast vergessenen Leben auf: Die Hirten am Rand der Hügel wie sie im Frühjahr ihre Schafe schoren.
Younas schloss einen Teil der Handschellen um den rechten Arm des Mannes, den anderen um dessen rechtes Fußgelenk. So wie die Hirten in jenem anderen Land es mit ihren Schafen taten, bevor sie sie zum scheren in den kleinen Stall zerrten.
Sicher: Der Mann hatte ihn gesehen und würde ihn wahrscheinlich beschreiben können.
Andererseits: WAS hatte er schon wirklich gesehen?
Im Grunde bloß irgendein Kerl mit dunklen Haaren, einem dunklen Mantel und einer Waffe in der Hand. Wie weit würde man damit schon kommen? Es musste Tausende Männer in Hamburg geben auf die die Beschreibung zutraf.
Nein, Younas hatte die richtige Entscheidung getroffen: Den Mann zu erschießen wäre ein Fehler gewesen.
Younas ging wie er gekommen war.
Sein Wagen wartete ein Stück die Straße herunter auf ihn. Es hatte keinen Sinn sich jetzt noch etwas vorzumachen. Er war zu weit gegangen um zurück zu können. Er würde weiter machen als wüsste er nicht, dass nur ein Stückweit unter dem Panzer aus Wut, Zorn und Adrenalin, mit dem er sich umgab, sein Verstand lauerte, der ihm immer und immer wieder zuflüsterte, dass Mord einen Preis hatte.
21 Uhr 55. Boyle hob seinen Kopf dem Videoauge über dem Eingang zu Francesca Bellinis Wohnung entgegen.
„ Ganz oben.“
Bellinis Stimme verzerrt vom Lautsprecher. Dann ein Summton. Die Eingangstür entriegelte sich.
Boyle trat ins Treppenhaus.
Während der Aufzug nach oben glitt säuselte irgendein Popsong aus verborgenen Lautsprechern.
Während der Zeit bei der Pressestelle hatte Boyle Bellini immer mal wieder auf irgendwelchen Veranstaltungen getroffen, war neugierig geworden und hatte sein Ohr an die Masse gelegt. Da waren jede Menge Gerüchte über sie. Dass sie unverschämt vermögend war zum Beispiel, und auch über ihre Arbeit als Chefredakteurin der ABENDZEITUNG hinaus, verboten gute Beziehungen zu jeder Menge hoher Tiere in Berlin pflegte. Eines Tages hatte sich Boyle ihre Polizeiakte beschafft und festgestellt, dass sie vor Jahren mal wegen Drogenbesitzes festgenommen, aber auf Intervention eines Fatzkes im Wirtschaftssenat gleich wieder laufengelassen worden war. Er hatte gesehen, dass Becker in seinem Safe ein Dossier über sie aufbewahrte, das er sorgsam vor fremden Blicken schützte. Er wusste, dass Becker, Haffner und ein paar andere hohe Tiere im Präsidium Bellini so sehr hassten, dass es für sie fast zu einer Religion geworden war.
Der Aufzug stoppte mit einem sachten DONG.
Bellini trug ein enges geschlitztes Kleid aus königsblauem seidigem Stoff, das ihre grünen Augen geschickt betonte. Um ihre kastanienbraunen Haare lag ein Handtuchturban und ihr Gesicht zierten Reste fettig weißer Creme.
„ Sie haben exakt fünf Minuten.“
Boyle schloss die Tür hinter sich. Ein quadratischer Raum. Eingerichtet in einem Mix aus schlichten Designermöbeln und antiken asiatischen Kalligraphien und Truhen.
„ Vergessen Sie, was immer Sie heute Nacht noch vorhaben.“
In Bellinis Augen zeigte sich abweisendes Glimmen.
„ Sie verwechseln da was – das hier ist nicht das Präsidium, sondern MEINE Wohnung. Und da macht mir keiner Vorschriften. Es sei denn, Sie hätten einen Haftbefehl dabei.“
Boyle verzog das Gesicht.
„ Kommen Sie, Bellini - fahren Sie die Krallen wieder ein.“
Der kalte Schimmer in ihren Augen blieb.
„ Hier ist die Neuigkeit des Tages: Stillers Sohn ist vor anderthalb Stunden erschossen worden. Sieht nach `ner Hinrichtung aus. Und nur um das mal klarzustellen: Stiller und Haffner haben `ne strikte Nachrichtensperre verhängt. Ich riskier hier gerade meinen Job.“
Auf dem niedrigen Couchtisch ein Cocktailglas in dem eine Olive schwamm und daneben ein Ascher mit einer selbst gedrehten Kippe, die verdächtig nach Joint roch.
„ Carl Stiller, der POLIZEIPRÄSIDENT?“
Bellini griff nach dem Joint. Zwei tiefe Züge bevor sie ihn wieder im Ascher ablegte.
„ Genau der. Und Dope fällt immer noch unters Betäubungsmittelgesetz – falls Sie es vergessen haben sollten.“
Bellini zuckte die Achseln. Boyle steckte sich eine Zigarette an.
„ Ich brauch ein bisschen Hilfe von außerhalb. Sie müssen für mich im Dreck wühlen, Bellini. Ich brauch mehr Informationen über Stiller. Irgendwas stimmt nicht an dem Typen.“
„ Was hab ich davon, dass ich für Sie das Trüffelschwein gebe?“
„ Zum Beispiel kämen Sie
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