Glasklar
Heidelinde war anzumerken, wie sehr sie das Gespräch mit Sabine aufgewühlt hatte. »Mit Terrorismus hatten sie damals keine Erfahrung. Sie waren nicht darauf vorbereitet worden – und doch hat man sie als unerfahrene junge Beamte an die Front geschickt. Es war zu der Zeit, als Schleyer entführt worden war.«
Sander nickte. Natürlich konnte er sich daran erinnern. Es war der ›Deutsche Herbst‹, wie man ihn aus heutiger Perspektive nannte.
»Der Tod des Jungen hat ihm unendlich leidgetan. Das war auch einer der Gründe, warum er den Job später aufgegeben hat, laut Sabine. Ganz aber hat ihn die Polizei trotzdem nicht losgelassen. Sie haben ihm Angebote gemacht, für sie weiterhin tätig zu bleiben. Man hat ihm den Job bei der Steuerfahndung verschafft, wo er sozusagen aus der Schusslinie war. Ja, aus der Schusslinie – im wahrsten Sinne des Wortes. Und er konnte nach Belieben verdeckt für die Polizei arbeiten. Es gab da eine Vereinbarung mit den Chefs. Sabine weiß auch nicht so recht, was da gelaufen ist.«
Sander versuchte in Gedanken, dies alles mit dem Inhalt seiner Dokumente in Einklang zu bringen. Die Übereinstimmung war tatsächlich frappierend. Sie hatten Heidenreich also angeworben und ihn mit beruflichen Vorteilen gelockt. Auf diese Weise hatte sich auch sein Jugendtraum erfüllt, einmal ein Geheimagent zu werden.
»Ich weiß natürlich nicht, ob dich das alles interessiert«, lenkte Heidelinde plötzlich ein.
»Natürlich interessiert mich das. Es interessiert mich sogar sehr«, beteuerte der Journalist.
»Sabine hat sich nicht getraut, dies den Kriminalisten zu sagen. Sie kann vor allem nicht so richtig abschätzen, wem sie es anvertrauen soll – und was mit solchen Hinweisen geschieht. Werner habe immer gesagt, alles, was er tue, sei ein bisschen illegal. Deshalb hab ich Sabine vorgeschlagen, es mit deiner Hilfe zu versuchen. Denn dich können sie ja nicht zwingen, über deine Informationsquellen zu sprechen. Oder vielleicht doch?«
Sander fühlte sich geschmeichelt. Das Gespräch kam gerade zur richtigen Zeit. Morgen früh würde er zu Häberle gehen.
»Werner hat erst später erfahren, wen er erschossen hat«, erzählte Heidelinde weiter. »Dass es der Bruder seines Exkollegen war, hat die Sache noch verschlimmert. Werner und Volker – also Lechner – hatten sich zu diesem Zeitpunkt zwar schon aus den Augen verloren, doch für Werner war es ein Schock. Das hat er Sabine erst vorletzte Woche erzählt. Bis dahin hat er nicht gewusst, ob Lechner jemals erfahren hat, wer der Todesschütze seines Bruders war.«
»Und die beiden, Werner und Lechner, die haben erst in jüngster Zeit wieder Kontakt miteinander aufgenommen?«
»Das ist eine ziemlich komplexe Geschichte«, erwiderte Heidelinde und trank ihr Glas leer. Sie spürte, dass ihr die Worte mit ein bisschen Alkohol leichter über die Lippen gingen. Zwischendurch musste sie das schlechte Gewissen beruhigen, das ihr vorwarf, sich wie eine Tratschtante zu benehmen. Doch alles, was sie Sander erzählte, war mit Sabine abgesprochen. »Aber das dürfte doch wohl auch in den Dokumenten drinstehen, die du vorhin erwähnt hast. Ich geh mal davon aus, dass du sie von Lechner hast …?«
Sander erwiderte nichts.
»Okay, du darfst es nicht sagen. Aber wer sonst, wenn nicht er, kennt jetzt noch die Hintergründe? Und wenn es Lechner ist, dann will er jetzt vermutlich den Versuch unternehmen, seinen alten Kumpel Werner anzuschwärzen und sich wieder aus dem Staub zu machen.«
»Entschuldige, aber so ganz verstehe ich das nicht.«
Heidelinde lächelte. »Auch ein Journalist kann nicht gleich alles kapieren. Werner hat in den vergangenen 30 Jahren geschickt überall mitgemischt. Er hatte Einblicke in alle gesellschaftlichen Kreise. Kürzlich soll er damit geprahlt haben, dass er mit dem Innenminister geschäkert hat. Bei irgend so einem Sportlerball in Göppingen. Dass er bei diesen Eisenbahn-Protestlern war, hat nichts mit Überzeugung zu tun. Er hat das im Auftrag des Staatsschutzes getan.«
Sander versuchte, sich jedes Detail von Heidelindes Erzählungen einzuprägen. Er wagte es nicht, seinen Notizblock aus der Hosentasche zu nehmen. Möglicherweise hätte es sie durcheinandergebracht und in ihrem Redefluss gebremst.
Sie stand auf und holte zwei Flaschen Pils aus dem Kühlschrank. »Weißt du«, sagte sie dabei, »du solltest mal mit Sabine selbst reden. Das klingt alles sehr spannend.« Sie kam mit den geöffneten Flaschen
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