Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
vorhanden sein musste. Sie liebte Chris, Nathanael zollte sie mittlerweile Bewunderung und Ehrfurcht. Beide Männer verhielten sich ihr gegenüber entsprechend. Grimm hingegen jagte ihr Angst ein, also verhielt er sich auch aggressiv. Ihr war nicht entgangen, dass er sich mäßigte, je weiter sie seine Einstellung anerkannte. Aber dafür brauchte sie Verständnis, nicht nur Fantasie. Amadeo erkannte sie zumindest eine gewisse Sensibilität für sein Umfeld an. Auf welchem Weg beeinflusste er die Menschen?
»Vermutlich hat es mit Büchern zu tun.« Christophs Stimme drang in ihr Bewusstsein.
Sie schrak zusammen. Wieder hatte sie vergessen, dass er mit ihr verbunden war. »Bücher?«
Er nickte. »Als Grimm mich vor Jahren in die Finger bekam, versuchte er, in Erfahrung zu bringen, wo Amadeo das Buch habe.«
»Er hat nicht gesagt, welches er meint, oder?«
Chris zuckte die Schultern. »Während wir das Gerichtsbuch durchgeblättert hatten, war ich mir fast sicher, dass er darauf anspielte.«
»Würde Sinn machen. Schließlich begann er damals bereits, Nathanaels Leben zu beeinflussen.«
»Wahrscheinlich hat er alles niedergeschrieben und Nathanael damit zu dem Leben verurteilt, das er nun führt.«
Das Originalmanuskript war zu blutig, um es zu veröffentlichen … Camilla blieb stehen. Ihr Herz schlug hart. Aufregung ergriff sie. »Es ist nicht das Gerichtsbuch, Chris, es ist das Manuskript des Sandmanns, was Amadeo nicht veröffentlichen konnte.«
Als sie endlich den Bahnhof Klosterstraße erreichten, war Camilla voll neuem Tatendrang.
Auf den letzten Metern jenseits der Wartehalle kamen sie in eine Wärme-Kälte-Schneise. Die Tatsache, von unterirdischer Kälte und dem Zugwind der U-Bahnen in die überhitzte Sommerschwüle zu kommen, trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Die dumpfe Hitze in der Station und der Gestank nach unzähligen Menschen nahm ihr fast den Atem. Ihr Herz raste vor Aufregung und Angst.
Sie mussten etwas unternehmen, aber sie wusste nicht, was. Mit zitternden Knien blieb sie stehen und hielt sich an Chris fest.
Als eine Bahn mit vollem Tempo einfuhr, wurde ihr klar, wie knapp sie dem Tod entkommen waren. Ihr wurde schwindelig. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Mehr als einmal waren die Züge so nah an ihr vorübergefahren, dass sie froh war, nicht von ihnen zerrissen zu werden.
»Machst du das öfter?«, fragte sie atemlos.
Chris nickte. »Geht notfalls nur einmal schief.« Seine Lungen rasselten wieder bei jedem Luftzug, aber er verlor seinen Pragmatismus nicht.
»Spinner, lass das zukünftig, okay? Ich will dich nicht noch einmal verlieren.« Er umarmte sie fest.
Camilla bemerkte, dass er selbst nass geschwitzt war. »Du hattest auch Angst, oder?«
Chris nickte. »Jedes Mal wieder, wenn ich das mache«, sagte er. Seine Stimme klang belegt.
Camilla drängte sich enger an ihn. Es tat gut, ihm so nah zu sein, auch wenn sie glaubte, vor Hitze zu zerfließen. Er verströmte solch intensive Gefühle, dass sie kein Empath sein musste, um sie klar zu erkennen. Impulsiv küsste sie ihn. Er ging nur zu gern darauf ein. Als sie sich voneinander lösten, drückte er sie fest an sich.
Camilla löste sich von ihm, zog ihre Jacke aus und schlang sie sich um die Hüften. Die feucht-heiße Luft legte sich wie ein schmieriger Film über ihre nackten Arme.
Chris machte eine Handbewegung in die Station hinein.
Camilla betrat den Bahnsteig. Einige Leute bemerkten sie, aber die wenigsten zollten ihnen Aufmerksamkeit. Etliche tuschelten miteinander, andere saßen auf den Bänken und lasen Zeitung, blätterten in Büchern und Zeitschriften, oder spielten mit ihren Handys. Die meisten standen reglos da und starrten die Anzeigentafel an, oder verloren sich in den Bildern alter Züge an den Wänden der Station. Die meisten sahen müde und abgespannt aus. Camilla warf einen Blick auf die digitale Bahnhofsuhr. Sechzehn Uhr fünfundzwanzig. Es war Nachmittag. Die Leute kehrten von ihrer Arbeit nach Hause.
Heute musste ein unerträglich heißer Tag sein. Frauen trugen leichte Kleider oder kurze Hosen, insofern sie es mit ihrem Beruf vereinbaren konnten, Männer dünne Sommeranzüge oder lockere Freizeitkleidung. Die meisten schwitzten dennoch stark. Bei einigen zeichneten sich feuchte Flecken unter den Armen ab. Das Parfum einiger Frauen roch fahl oder sauer durch die Ausdünstungen. Bei anderen nahm der Duft abgestandene Züge an, oder war einfach unerträglich süß. Alle Gerüche vermischten
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