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Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)

Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)

Titel: Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Meurer
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»Spinner!«
    »Frag schon.«
    Sie wurde ernst. So viele Fragen brannten noch auf ihrer Seele und ständig kamen neue hinzu.
    »Was machen die Menschen hier den ganzen Tag?« Sie deutete zu einem Mädchen von vielleicht zehn Jahren, das ihnen entgegenkam. Es trug einen Korb mit Wäsche unter dem Arm, allerdings bewegte sie sich, als hätte sie einen eng gesteckten Zeitplan. Als sie Chris und Camilla passierte, grüßte sie freundlich.
    »Hallo Annett«, erwiderte Chris.
    Camilla sah hinter ihr her. »Was macht sie?«
    »Annett ist die Tochter eines Schneiders. Sie trägt die reparierten und neuen Sachen zu den Kunden.«
    »Ihr habt hier unten Arbeit?« Sie biss sich auf die Lippe. Die Frage war alles andere als intelligent. Natürlich musste es hier Dienstleistungen geben.
    »Wie ich sehe, ist dir klar, dass es nicht ohne Arbeit geht.«
    »Alle Arten handwerklicher Berufe«, mutmaßte sie.
    Er nickte. »Wir können bei einem Problem nicht den Servicetechniker anrufen. Der Schreiner muss vor Ort sein, genau wie der Maurer, der Küfer oder der Schneider. Nur werden die meisten Sachen hier außerhalb der eigentlichen Stadt hergestellt.«
    »Das ist wie in einem mittelalterlichen Dorf.«
    »Nicht ganz. Vieles können wir nicht herstellen, weil wir weit unter der Erde leben und keine Essen oder Hochöfen in großem Stil betreiben können. Wir machen alles in bestimmtem Rahmen eigenständig, erreichen aber schnell unsere Grenzen. Dafür haben wir oben Freunde, die uns versorgen.«
    »Wie Melanie Wallraf .«
    »Ja.«
    »Woher bekommt ihr Wasser?«
    »Wir zapfen Rohrleitungen an und haben unterirdische Brunnen.«
    »Wie kommt ihr an Brennstoffe?«
    Chris hob die Brauen. »Du interessierst dich ziemlich für das System hier unten, oder?«
    Camilla nickte. »Es ist faszinierend.«
    Er legte seinen Arm um ihre Schultern und ging langsam mit ihr weiter. »Wir benutzen das Holz, was da ist, Kohle von oben und Butangasbrenner.« Seine Zigarette wippte im Mundwinkel. Scheinbar hegte er kein Bedürfnis, sie zu entzünden.
    Eine Frage beschäftigte Camilla besonders. Sie hatte mitbekommen, dass Amadeo Gedanken lesen konnte und Macht über den Geist anderer Personen hatte, aber reichte es auch aus, mit all seinen Kontaktpersonen zu kommunizieren?
    »Wie verständigt ihr euch mit den Menschen oben?«
    »Auf diese Frage habe ich gewartet.« Chris lachte.
    »Ach!« Camilla wusste nicht, was so außergewöhnlich an ihrer Frage sein sollte.
    »Es gab in Berlin bis in die siebziger Jahre ein Rohrpostsystem, das heute nicht mehr genutzt wird. Es ist unsere Verbindung an die Oberfläche. Telefone und Handys besitzen nicht die Leistung, bis hier hinunter zu senden.«
    »Rohrpost? Ernsthaft?«
    Er nickte. »Hundertzehn Jahre wurde das System genutzt.« In seiner Stimme schwang Stolz mit.
    Sie beobachtete ihn. Sein Herz schlug offensichtlich für die Technik dieser Stadt, und Camilla konnte ihn verstehen.
    Die Gasse öffnete sich auf einen großen, freien Platz. Viele Menschen gingen hier ihrem Tagewerk nach, allem Anschein nach handelte es sich um eine Art Handwerkermarkt. Schuster und Drechsler teilten sich ein Haus, während Camilla aus einem Ladenlokal der Duft von frischem Brot und Brötchen in die Nase wehte. Unwillkürlich begann ihr Magen zu knurren. Sie hatten beide noch nichts gegessen.
    »Ob Amadeo etwas dagegen hat, wenn wir ihm Frühstück mitbringen?«
     
    Das Gebäude, in dem Amadeo lebte, wirkte ähnlich verwinkelt und schäbig wie Chris’ Behausung. Camilla registrierte einige entscheidende Unterschiede. Bei Chris herrschte beständig geordnetes Chaos, in dem es sich leben ließ. Hier fand sie spartanische Leere vor. Der Ort, unübersichtlich und düster.
    Nachdem sie den niedrigen Eingang durchschritten und ausgetretene, schmale Stufen bis unter das Dach erklommen hatten, erreichten sie einen engen, endlos langen Flur. Die nackten Steinwände erinnerten an ihre Flucht. In den Fugen hatten sich Staub und Schimmel abgesetzt. Chris ging langsam voraus. Der Boden aus verbranntem Holz knackte bedenklich unter seinem Gewicht. Alle Schatten kamen ihr dichter und stofflicher vor. Unangenehmer Geruch nach Brand und Alkohol lag in der Luft. Das Atmen fiel ihr schwer.
    Camilla blieb dicht hinter Chris. Der Ort war unheimlich, fast, als beträte sie ein finsteres Herz in einer freundlichen Hülle. Der Gedanke ließ sich nicht abschütteln. Hier stank es geradezu nach Alter und Tod.
    Am Ende des Flures öffnete sich ein kleiner Raum.

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