Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
ist verboten, das ist dir aber klar, oder?«
Er nickte. »Hier greift alles ineinander, Camilla. Jeder handelt für und mit jedem. Gelebter Sozialismus und Kommunismus, wenn du es so willst. Das Individuum ist auf das Kollektiv angewiesen.«
»Helfer und Ingenieure, die hier etwas bewegen, sind also wichtig«, führte Camilla aus. »So könnte man hier vielleicht eine moderne Stadt mit Strom und Wasserversorgung erschaffen.«
»Generell kannst du aber kein Stromnetz so tief hinab verlegen«, erwiderte Chris. »Dazu brauchst du Trafo-Stationen. Wir müssten bestehende anzapfen. Das können wir uns nicht erlauben. Wenn es zu einem Stromausfall kommen sollte«, er deutete nach oben, »in Berlin, meine ich, würden die Techniker nicht lang brauchen, um zu merken, dass ihnen jemand Energie abzapft.«
»Du meinst, sie würden die Stadt finden?«
Chris nickte. »Versucht hat man es schon mal. Aber das ist bald siebzig Jahre her.«
Sie fuhr sich durch die Haare. »Habt ihr noch nie darüber nachgedacht, euch ein eigenes Stromversorgungssystem zu bauen?«
Chris lächelte. »Doch, schon. Aber dabei sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder Sachen ziemlich schiefgegangen.«
Er wies zu Boden. »Alle Energieformen fallen weg. Wind, Licht, Feuer. In der Kaverne bewegt sich auch das Wasser nicht genug. Wir können also nicht einmal auf Wasserkraft zurückgreifen. Davon abgesehen wäre ein Turbinenwerk auch zu laut. Man würde uns schnell finden.«
Sie nagte wieder an ihrem Lippenring. »Rauchabzüge habt ihr auch nicht. Verbrennung würde nicht funktionieren.«
»Möchtest du Ancienne Cologne unbedingt modernisieren?«, fragte Chris.
»Nein, das nicht. Aber ich bin die Tochter eines Stadtbauarchitekten und einer Kraftwerksingenieurin.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ein bisschen was von meinen Eltern ist auch in mir.«
»Wo kamst du noch mal her?« Er drückte die Zigarette an einer Hauswand aus und warf sie von sich.
Camilla seufzte. Ihr Herz zog sich zusammen. »Frankfurt am Main.«
»Schade, dass ist weit weg. Solche Helfer wären ein Segen für die Stadt.«
»Vielleicht würden sie helfen«, antwortete Camilla heftig.
Schwermut zog in ihre Gedanken. Was würde aus ihr und Chris werden, wenn sie Ancienne Cologne verließ? Sie wollte nicht mehr von ihm fort. Besser, sie verdrängte den Gedanken, bevor sie mitten auf der Straße in Tränen ausbrechen konnte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Chris.
»Ja«, murmelte sie, klang aber nicht danach. Rasch suchte sie sich eine andere Ablenkung und sah sich neugierig um. Als sie auf den kleinen Marktplatz abbogen, standen vielleicht drei Dutzend Menschen in einer Schlange. Camilla blieb stehen und beobachtete sie. Die meisten trugen Körbe und Töpfe mit sich. Einige beluden kleine Leiterwagen damit.
»Was machen sie hier?«, fragte sie Chris.
»Es gibt eine Gemeinschaftsküche, die von Amelie geleitet wird. Sie und einige Männer und Frauen kochen für die ganze Stadt.«
»Warum das denn?«
»Ihr Haus und das des Bäckers schließen sich einem Frischluftsystem an, das die Gerüche aus der Stadt bringt.«
Erneut fühlte sich Camilla an ihre Eltern erinnert. Die beiden würden der Stadt durchaus helfen können.
Langsam setzten sie sich wieder in Richtung Olympias Haus in Bewegung. Im Vorübergehen sah sie Amelie, die gerade Essen verteilte. Sie winkte kurz. Camilla erwiderte ihren Gruß. Sie spürte den besorgten Blick der Puppe im Rücken, als sie eine ihr fremde Gasse betraten.
Die Häuser drängten sich dicht aneinander, sodass es den Anschein hatte, als ob sie oben zusammenwachsen würden. Der vorherrschende Baustil war Fachwerk, aber es schien Jahrhunderte jünger als das Haus, in dem Amadeo lebte.
Kindergeschrei drang aus offenen Fenstern. Jemand sang zu den Klängen der »Drei-Groschen-Oper«. Den Störgeräuschen zufolge musste es ein Grammofon oder eine Wachswalze sein, von der die Musik gespielt wurde. Ancienne Cologne erschien Camilla immer noch wie ein Wunderwerk aus einer anderen Zeit.
Chris murmelte etwas Unverständliches und riss sie aus ihren Betrachtungen. Nachdem er das Zigarettenpäckchen geöffnet hatte, verzog er die Lippen.
»Was ist?«, fragte Camilla.
»Es sind nur noch drei drin«, erklärte er.
»Das reicht doch«, lächelte sie. »Eine für das Frühstück, eine zum Mittag und eine nach dem Sex.«
Chris lachte leise und zündete sich eine Zigarette an.
»Du bist ein Grund, damit aufzuhören«, entgegnete er zwischen zwei
Weitere Kostenlose Bücher