Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
besser.
Sie biss die Kiefer aufeinander und schloss die Augen. Sie versuchte, die Eindrücke auszublenden. Chris’ Nähe beruhigte sie ein wenig. Schließlich hob sie die Lider. Chris sah hinauf. Der Lichtkegel tastete an der Decke entlang und fing eine Krankonstruktion ein, die an einem wuchtigen Unterzug befestigt worden war. Ein Schienennetz lief zwischen den Stützen entlang. Dieses System war in der Lage, einzelne Parzellen des Bunkers mit Schwerlasten zu versorgen. So konnte Nathanael beispielsweise den OP-Tisch beliebig versetzen. Chris ließ die Lampe sinken. Das Licht verlor sich nach einigen Metern.
Camilla schauderte. Wie groß mochte der Bunker sein? Die Seitenwände waren nachträglich aufgemauert und mit dicht gesetzten Stahltüren und Klappen versehen. Der Eindruck von Gefängniszellen drängte sich ihr auf.
Camilla fuhr zusammen. Hielt er hier seine zukünftigen Opfer gefangen? Sie lauschte angestrengt, hörte allerdings nur ihre und Christophs Atemzüge.
»Wie eine Grabkammer.«
Chris nickte. »Wo ist nur der Sandmann?« Er leuchtete durch den Raum. Sie wollte gerade antworten, als das Licht eine Gestalt erfasste, die dicht neben einer Stütze stand. Ein Schrei flog über ihre Lippen.
Chris ließ den Strahl zurückzucken. Allerdings war der Platz leer!
Camillas Herz raste. Sie war sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Grimm – ganz sicher war er es. Camilla zog das Messer aus der Tasche. Ihre Hand verkrampfte sich um den Griff. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Ihre Waffe hielt sie nach vorn gestreckt. Langsam, vorsichtig wich sie zurück.
Chris ließ ihre Hand los. Mit der Lampe schwenkte er durch den Raum. Das Licht brach sich auf stumpf metallenen Flächen. Er griff nach einem Skalpell.
In der Sekunde flackerte grell weißes Neonlicht auf und tauchte den Raum in unerträgliche Helligkeit.
Camilla kniff die Augen zusammen.
»Lauf!«, schrie Chris.
Fast blind stürzte sie los und prallte heftig gegen eine Person. Noch bevor sie ihn sehen konnte, drang durchdringender Leichengestank in ihre Nase.
Nathanael. Sie schrie auf und sprang zurück. Chris’ Hand schloss sich um ihre. Er riss sie von dem Sandmann fort. Camilla stolperte einige Schritte hinter ihm her, bevor er abrupt stehen blieb. Unsanft prallte sie gegen ihn. Er strauchelte, fing sich aber. Sie konnte ihr Gleichgewicht im ersten Moment kaum halten. Plötzlich schlang sich Christophs Arm um ihre Taille. Er riss sie zur Seite. Sie schlug mit der Hand gegen einen Gerätetisch. Das Messer prellte aus ihren Fingern und schlitterte über den schmutzigen Estrich.
»Scheiße.« Die Wut überwog ihre Angst. Als sie den Blick hob, blieb ihr Herz beinah stehen. Kaum einen Schritt entfernt stand Grimm. In seinen Augen loderte nackter Hass. Seine Kiefer mahlten unablässig. In seiner Hand lag die Pistole. Er brachte sie in Anschlag und zielte auf Chris, in dessen Hand das Skalpell stichbereit lag.
»Halt!« Nathanaels Stimme donnerte durch den Raum.
Tatsächlich verharrte Grimm. Wut verzerrte sein Gesicht. Der Zeigefinger spannte sich um den Abzug.
Ohne zu überlegen riss Camilla Chris zu Boden. Sie spürte, wie ihm alle Luft aus den Lungen getrieben wurde. Atemlos stöhnte er auf, rollte sich aber geistesgegenwärtig zur Seite. Deckung fand er nicht, aber Grimm musste seine Position verändern. Gemächlich folgte der Polizist Christophs Bewegungen. Camilla erstarrte.
»Andreas!« Nathanaels Stimme nahm einen drohenden Unterton an.
Der Polizist zögerte. Schließlich beugte er sich seinem Herrn und ließ die Waffe sinken.
Die Situation entspannte sich etwas. Camilla wagte, auf die Füße zu kommen und reichte Chris die Hand. Er schüttelte den Kopf. Mühsam stemmte er sich hoch. Seine Hand strich über seine Brust.
»Ist dir etwas passiert?«, fragte Nathanael.
Verwirrt schüttelte er den Kopf.
Camilla wandte sich dem Sandmann zu. Nathanael hatte sich wieder ein bisschen verändert. Noch immer sah sein Gesicht entsetzlich und ausgezehrt aus. Trotzdem war es keine Grimasse mehr. Er machte den Eindruck eines riesigen, hageren Mannes, dem das Leben alles Leid in die Züge gebrannt hatte. Seine Augen wirkten so lebendig wie Christophs.
Seine Augen – Camilla betrachtete ihn eingehender. Eines davon bewegte sich gar nicht. Von einem Moment zum anderen begriff sie, dass Olympias Worte kein Synonym waren. Nathanael hatte eines seiner Augen an Grimm weitergegeben. Ihr schwindelte. Wie konnte man so etwas
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