Glaub nicht es sei vorbei
allen Grund hatte, sich zu fürchten. Also beschloss sie, nach ihrem Anflug von Übelkeit, einfach so zu tun, als sei nichts geschehen. Sie würde weitermachen wie in den vergangenen 62 Jahren, selbstgenügsam, kompetent, ein wenig dominant, um ihre Unsicherheit zu verbergen.
Sie beschloss, den Rest des Tages gut zu nutzen. Sie wusch zwei Maschinenladungen Wäsche, saugte das ganze Haus, obwohl sie erst vor drei Tagen Staub gesaugt hatte, und ordnete die bereits wohlgeordneten Schubladen ihrer Frisierkommode. Dann schrieb sie sorgsam vier Rezepte in ihr Heft, die sie von ihrer Kirchengruppe bekommen hatte.
Um zehn Uhr abends sah sie sich einen Krimi an, hatte jedoch große Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Danach wusch und cremte sie ihr blasses Gesicht, schlüpfte in ein Baumwollnachthemd, las ein Kapitel des Romans Meine Antonia , nahm eine Melatonintablette und döste schließlich ein. Sie träumte gerade, dass die Drogerie voller Leute war, die sich wütend beschwerten, weil sie jedes Rezept falsch ausgegeben hatte, als das Telefon neben ihrem Bett klingelte. Noch ganz in ihrem Traum gefangen, hielt sie das Geräusch zunächst für eine Polizeisirene. Man wollte sie holen und wegen Inkompetenz ins Gefängnis verfrachten. Erst beim dritten Klingeln merkte sie, dass sie das Telefon hörte. Ihre Hand fasste rasch nach dem Hörer. »Matilda Vinson.«
»Miss Vinson?« Eine schwache weibliche Stimme mit fürchterlich näselnder Stimme war am anderen Ende der Leitung. »Spreche ich mit Miss Matilda Vinson?«
»Ich sagte es bereits. Was ist?«
»Oh. Ihr Vater. Er ... nun ja, es geht ihm nicht so gut.«
»Was! Mein Vater? Was ist denn mit ihm?«
»Es geht ihm nicht so gut.«
»Das sagten Sie bereits. Könnten Sie sich deutlicher ausdrücken? Ist es sein Alzheimer? Sein Herz?«
»Ja.«
»Was nun?«
»Na ja, beides.« Die Frau schwieg kurz. »Ja, wissen Sie, sein Herz macht Faxen, und das macht ihm Angst.« Sie stockte erneut. »Er glaubt, wir sind im Zweiten Weltkrieg, und möchte losfliegen, um Japaner abzuschießen.«
»Er hat das Theater doch gar nicht mitgemacht.«
»Sie missverstehen mich. Er redet nicht von der Bühne, sondern vom Krieg.«
0 Gott, manche jungen Leute waren dümmer als die Polizei erlaubt, dachte Matilda. Lernte man denn an der Sinclair High School nichts über den Zweiten Weltkrieg?
»Er ist nur völlig außer Rand und Band und ruft nach Ihnen. Die Oberschwester meint, Sie sollten herkommen.«
»Wo ist denn sein Arzt?«
»Wir können ihn nicht erreichen. Aber wir tun alle unser Bestes für Ihren Daddy. Vielleicht können Sie aber noch mehr für ihn tun.« Sie stockte erneut. »Bitte, Miss Vinton, es ist enorm wichtig.«
»Vinson«, sagte Matilda mechanisch. »Ich bin sofort bei Ihnen. Legen Sie ihm keine Zwangsjacke an. So was macht ihn verrückt.«
Aber er ist doch schon verrückt, dachte sie voller Schuldgefühle und Verzweiflung. Was für ein gut aussehender, intelligenter, freundlicher Mann er gewesen war, immer gelassen und mit mehr gesundem Menschenverstand gesegnet als irgendjemand sonst, den sie kannte. Und jetzt, über achtzig, kam ihm der Zweite Weltkrieg wieder in den Sinn, und diesmal bildete er sich ein, er sei Pilot gewesen, dabei war er in seinem ganzen Leben noch nicht geflogen. Matilda hoffte, dass sie selbst in zwanzig Jahren an einer gewaltigen Gehirnblutung sterben würde. Es wäre einen kurzen Moment lang schmerzvoll und beängstigend, aber doch ein weitaus würdevolleres Ende als diese langsame Hirnzersetzung.
Matilda schlüpfte in eine bequeme Hose und einen weiten Pullover und kämmte ihr dickes graumeliertes Haar. Dann stellte sie im Wohnzimmer eine Lampe ins Fenster, damit es aussah, als sei sie daheim, falls jemand das Haus beobachten sollte. Sie griff sich ihre Handtasche, die auf einem Regal neben der Tür lag, die in die Garage führte. Einen Moment später öffnete sich das Garagentor, und Matilda lenkte den Wagen auf die Straße hinter ihrem Haus. Ihr Vater hatte Garagen gehasst, die sich nach vorn öffnen ließen. Und so sah sie der Polizist, der in einem Wagen vor dem Haus postiert war, nicht wegfahren.
Das Pflegeheim war nur zwei Meilen von Matildas Haus entfernt. Als sie weinend die Papiere unterschrieben hatte, um ihrem Vater einen Platz im Heim zu sichern, war es ihr vorgekommen, als sei es 200 Meilen weit von ihr entfernt. Sie hatten ihr ganzes Leben zusammen verbracht; und obwohl sie mindestens einmal täglich mit ihm telefonierte und
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