Glaub nicht es sei vorbei
den Sonnenaufgang zu warten. Sie schlug die Bettdecke zurück, ging ins Badezimmer, besprengte sich das Gesicht mit Wasser, warf sich einen Morgenmantel über und ging nach unten.
Die Küche war ungewohnt leer ohne Betty und den Geruch nach Essen. Oder nach Kaffee. Das war es, was sie jetzt brauchte. Eine feine Tasse starken Kaffees. In ihrem aufgedrehten Zustand wäre entcoffeinierter Kaffee wahrscheinlich ihrer Gesundheit zuträglicher gewesen, aber sie brauchte jetzt einen kräftigen Koffeinschub. Sie füllte Kaffeepulver in den Filter der Kaffeemaschine, schaltete sie ein und ging vor die Tür, um die Morgenzeitung zu holen. Als sie sich danach bücken wollte, fuhr ihr der Schreck in alle Glieder.
Auf dem Gehweg lagen die welken Überreste der Rosen, die sie gestern bei der Gruft gelassen hatte, und auf dem Band sah man die goldenen Lettern »Zur baldigen Genesung« im Licht glänzen.
2
Eine Viertelstunde später war Rebekka in Jeans und T-Shirt geschlüpft und saß am Steuer des roten Thunderbirds. Sie hatte eine Thermoskanne mit Kaffee dabei und Sean auf dem Beifahrersitz.
»Zweimal habe ich Jonnie in der Gruft gespürt«, sagte sie in ihrer Nervosität zu dem Hund. »Gestern war ich dort. Ich habe diese Blumen dort gelassen, Sean. Nicht ähnliche, nein, genau dieselben, mit dieser lächerlichen Botschaft.« Tränen traten ihr in die Augen. »Was in Gottes Namen versucht er mir bloß zu sagen?«
Nachdem sie die Rosen gefunden hatte, war Rebekka in die Küche gelaufen, wo Betty an einem Wandbrett in tadelloser Ordnung die Schlüssel aufbewahrte. Jeder der über ein Dutzend Schlüssel hing, sorgsam beschriftet, an seinem Haken. Schlüssel und Schlüssel für jedes Auto. Schlüssel und Ersatzschlüssel für jede Tür auf dem Grundstück. Schlüssel für Esthers Haus. Schlüssel zu wichtigen Büros in der Firma. Als sie kurz davor war einen Tobsuchtsanfall zu bekommen, entdeckte sie endlich, wonach sie gesucht hatte: die Schlüssel zur Gruft.
Tagsüber hätte sie keine Hemmungen, allein auf den Friedhof zu gehen, aber im Morgengrauen würde sie ihn lieber nicht ohne ihren Hund betreten. Sean war aufgeregt wie immer, als sie ihn an die Leine nahm.
Blaue Streifen zogen sich wie verschüttete Farbe über einen schiefergrauen Himmel, als Rebekka in den Friedhof bog. Die Scheinwerfer ihres Wagens leuchteten über den taufeuchten, perfekt geschnittenen Rasen. Viele der Granitgrabsteine glänzten noch von der Feuchtigkeit der Nacht, und die Blumenarrangements auf den Gräbern strahlten in ihrer ganzen Farbenpracht.
Sie fuhr langsamer, als sie sich der Gruft näherte. Ihre schwarze Granitsilhouette sah im Dämmerlicht des frühen Morgens weniger imposant aus als bedrohlich, wie geschaffen für ruhelose Seelen. Rebekka schauderte und beschloss bei diesem Anblick, dass sie sich nach ihrem Ableben lieber auf dem Hügel am Bach begraben ließe, den Mr. Hale Clay beschrieben hatte. Vielleicht würde sie, sofern er nichts dagegen hatte, sogar neben Clay liegen, da keiner von ihnen mit seinen jeweiligen Angehörigen begraben werden würde ...
»Nur nichts beschreien!«, murmelte Rebekka nervös. Sie konnte sich vor Angst nicht zum Aussteigen entschließen. Da war sie wie Superwoman persönlich hierhergebraust, und jetzt saß sie im Auto und grübelte darüber nach, wo sie begraben werden wollte. Dafür war jetzt keine Zeit.
Sie blickte sich um. Niemand zu sehen. Dann sah sie auf die Uhr. Viertel nach sechs. Viel zu früh für den Friedhofsgärtner. Sie konnte immer noch zum Häuschen von Mr. Hale gehen, nur eine Viertelmeile von hier, und ihn bitten, sie in die Gruft zu begleiten, aber wenn darin alles in Ordnung war, machte sie sich lächerlich, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie ihn aus dem Schlaf reißen würde.
Rebekka holte tief Luft und stieg aus dem Wagen. Sean kletterte hinterher. Als er das Bein hob, war Rebekka allerdings heilfroh, dass sie Mr. Hale aus dem Spiel gelassen hatte. Er war ein gutmütiger Mensch, aber wenn es um den Friedhof ging, konnte er ungemütlich werden.
»Muss das sein, Sean?«, zischte sie.
Sean bedachte sie mit einem Blick, der deutlich sagte: Jawohl, und ich werd's wieder tun. Sie seufzte. Gott sei Dank hatten Menschen nicht das Bedürfnis, auf diese Weise ihr Territorium zu markieren.
Langsam stiegen sie die drei Stufen zum Säuleneingang der Gruft empor. Der Rosenstrauß war fort. Natürlich, der hatte ja vor ihrem Haus gelegen. Ein schmiedeeisernes Tor, stets
Weitere Kostenlose Bücher