Glaub nicht es sei vorbei
dass du angerufen hast.«
Er legte auf, ohne sich zu verabschieden. Rebekka seufzte und lehnte sich in die Kissen zurück, sie fühlte sich hilflos. Sie konnte nicht einfach nur hier liegen bleiben und auf eine weitere Vision hoffen, also rappelte sie sich unter Schmerzen auf und ging unter die Dusche. Dann rief sie ihre beste Freundin in New Orleans an, erklärte ihr kurz die Situation mit Todd und bat sie, ihre Pflanzen zu gießen und ein Auge auf die Wohnung zu haben. Danach schickte sie ihrer Agentin eine Mail und hinterließ ihre Telefonnummer. Die Agentin wartete auf das Exposé von Rebekkas nächstem Buch, das am Ende der Woche fällig war. Rebekka hatte allerdings ihre Zweifel, dass sie in dieser Woche auch nur ein Wort zu Papier bringen würde.
Sie versuchte nochmals einzuschlafen, aber nach zehn Minuten im Bett sah sie ein, dass sie viel zu unruhig war, um sich in ihrem Zimmer von der Welt abzuschirmen. Also stand sie auf, nahm zwei Aspirin gegen die Schmerzen und wagte einen Blick in den Spiegel. lhr Kinn zierte ein langer Kratzer, und ein Bluterguss hatte ihren Wangenknochen blau verfärbt. Ihre Augen waren viel zu gereizt, um Kontaktlinsen zu ertragen, also setzte sie ihre Brille auf, schlüpfte in eine bequeme Hose und ein T-Shirt und ging nach unten.
Auf dem Weg in die Küche fiel ihr auf, dass das Wohnzimmer noch immer in den Farben Cremeweiß, Jägergrün und Antikgold gehalten war, genau wie vor acht Jahren, als sie von zu Hause fortgegangen war. An der einen Wand stand ein Klavier, an der anderen eine Hammondorgel. Sowohl sie als auch Jonnie hatten Klavierunterricht erhalten. Rebekka hatte zwar fleißig geübt, war aber nicht über das Standardrepertoire für Anfänger hinausgekommen. Sie war deswegen bitter enttäuscht, genau wie ihre Mutter. Bei Jonnie war das anders. Obwohl er lautstark gegen die lästige Überei protestiert hatte, bewies er bemerkenswert viel Talent.
Rebekka schaltete die Orgel ein, setzte sich auf die Bank und stellte sich ihren Bruder mit dem goldenen Haar und dem entrückten Gesichtsausdruck vor, wenn er spielte. Der Lieblingssong ihres Vaters war ein Ohrwurm aus den Sechzigern, A Whiter Shade of Pale von Procol Harum, gewesen. Er hatte sich die Kassette so oft angehört, dass Suzanne schon befürchtet hatte, er würde das Band überstrapazieren. Und noch Jahre nach Patricks Tod, als Jonnie den Song zum Andenken an seinen Vater mit viel Gefühl in einem Talentwettbewerb zum Besten gegeben hatte, hatte Suzanne im Publikum leise geweint. Jonnie hatte den Wettbewerb gewonnen und war sehr stolz gewesen. Drei Monate später hatte man ihn ermordet und damit auch seine Freude an der Musik und sein viel versprechendes Talent ausgelöscht.
Rebekka gelangen die ersten Akkorde, doch dann wurden ihre Finger steif. Selbst wenn sie Jonnies Talent besessen hätte, wäre sie nicht imstande gewesen, den Song zu spielen. Es war zuerst Patricks, dann Jonnies Lied. Sie würde es nie mehr hören, ohne an die beiden geliebten Menschen, die sie verloren hatte, denken zu müssen.
Sie stand auf und ging in die Küche. »Was tust du denn schon hier?«, fragte Betty, die gerade einen Thunfischsalat zubereitete. »Du brauchst Schlaf.«
»Ich habe lange genug geschlafen, und ich bin nervös.«
Betty besah sich ihr Gesicht im Tageslicht und schüttelte sich. »Der Gedanke, dass du noch einen Unfall hattest, erschreckt mich zu Tode. Manchmal frage ich mich, warum du ein solcher Pechvogel bist, Kind.«
»Ich mich auch«, sagte Rebekka trocken, »obwohl man es auch als Glück bezeichnen könnte, dass ich zwei Autounfälle überlebt habe.«
»Schon möglich. Übrigens gefällt mir deine Brille. Die hast du getragen, als du zwölf warst. Damals warst du ein richtiger Wonneproppen.«
»Na toll. Dann sehe ich also wie ein 12-jähriger Wonneproppen aus. Der Tag ist gerettet.«
»Du bist griesgrämig und musst wieder ins Bett.«
»Im Bett wäre ich noch viel griesgrämiger.« Am Küchentisch saß ein Mann vor einem. Teller mit Eiern und Schinken. »Das ist bestimmt Walt.« Seine schlaksigen Arme und Beine standen nach allen Seiten von ihm ab, und sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen war braun und wettergegerbt. Er sah sie schüchtern an und stand auf, wobei er dem Tisch einen Stoß versetzte, sodass alles darauf ins Schwanken geriet, und verbeugte sich wie vor einer Majestät. »Wie geht es Ihnen, Ma'am?«
»Hallo, Walt.« Rebekka streckte ihm die Hand entgegen. Walt wischte sich die Rechte an
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