Glaub nicht es sei vorbei
erstreckten sich zu beiden Seiten, und bald sah sie Esthers ausladendes weißes, zweistöckiges Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das von einer Veranda umrundet wurde und in dessen Glaskuppel sich die Sonne spiegelte. Solange Rebekka denken konnte, hatte Esther davon gesprochen, das Haus mit den fünf Schlafzimmern zu verkaufen, weil es viel zu groß sei für eine Person, aber Rebekka wusste, dass sie das niemals tun würde. Esther hatte in die Gärtnerei eingeheiratet und seit ihr Mann vor zehn Jahren gestorben war, alleine hier draußen gelebt. Rebekka stellte den Wagen vor dem Haus ab und nahm Sean an die Leine. Esther kam aus einem der Gewächshäuser, und als sie Rebekka erkannte, eilte sie ihr entgegen und drückte sie an sich.
»Niemand hat mir gesagt, dass du kommen würdest!« Sie trat einen Schritt zurück und runzelte die Stirn. »Ich habe gehört, dass du einen Unfall hattest, Liebes.«
»Ich bin gegen einen Baum gefahren. Mir geht's gut, dem Baum weniger.«
»Bäume lassen sich ersetzen. Und Autos auch. Du nicht, mein Mädchen.« Esther warf einen Blick auf den Hund. »Und das hier ist wohl der temperamentvolle Sean, von dem du mir schon so viel erzählt hast. Ein Prachtkerl! Mal sehen, was er von mir hält.«
»Du scheinst akzeptabel zu sein.«
Rebekka besah sich Esther aus der Nähe. Sie hatte befürchtet, Esther könne kränklich und. geschwächt aussehen, aber sie wirkte unverändert, als sie schwungvoll ihren Strohhut abnahm und ihre schulterlangen silberweißen Locken schüttelte, die noch nie einen Friseursalon von innen gesehen hatten. Ihr Gesicht war wettergegerbt, aber ihre strahlend blauen Augen straften ihre 75 Jahre Lügen. Ihr Körper war von mädchenhafter Schlankheit; sie trug Jeans, ein loses kariertes Hemd, Turnschuhe und ein kleines goldenes Kreuz um den Hals.
»Frank hat mich erst heute morgen angerufen und mir erzählt, dass Todd entführt worden ist«, sagte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich kann es nicht fassen! Ich wollte sofort zu Molly fahren, aber als ich sie anrief, sagte mir Bill, ich solle vorläufig nicht kommen.«
»Da geht's uns beiden gleich. Bei Molly scheint im Augenblick der Teufel los zu sein mit all den Reportern und Schaulustigen.«
»Eine Schande!« Esther wischte sich eine Träne fort, die ihr über die Wange gelaufen war, und zog die Stirn kraus. »Aber Todd ist doch erst letzte Nacht entführt worden. Wie kommt es, dass du so schnell hier sein konntest, das ist doch gar nicht möglich.«
»Ich ... ich ...« Rebekka, die Krimiautorin, rang verlegen nach Worten. »Ein Zufall, dass ich ausgerechnet jetzt hier bin.«
»Papperlapapp, Rebekka Ryan! Molly hat nicht dicht gehalten. Versuch nicht, es abzustreiten. Ich sehe es dir an der Nasenspitze an. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde wieder gesund. Ich werde diese Gärtnerei noch zwanzig Jahre lang führen. Ich bin nur wütend, weil ich Lungenkrebs habe, obwohl ich in meinem ganzen Leben noch keine Zigarette geraucht habe!«
»0 Tante Esther, du bist wunderbar!« Rebekka lachte und umarmte ihre Tante erneut. »Ich hätte wissen müssen, dass du nicht klein beigeben würdest. Es wäre schließlich das erste Mal.«
»Wer immer gleich das Schlimmste befürchtet, erreicht gar nichts, weil er viel zu deprimiert und ängstlich ist, um sich selbst zu helfen. Doch genau das ist der springende Punkt. Man muss sich selbst helfen — und den anderen natürlich auch. Du bist hergekommen, um nach mir zu sehen, und jetzt kannst du Molly beistehen.«
»Ach, ich weiß nicht, Tante Esther. Bei Jonnie war ich keine große Hilfe.«
»Das lag doch nur daran, dass du und Jonnie euch so nah gestanden habt. Die enge Verbindung zwischen euch beiden hat deine Fähigkeiten durcheinander gebracht — ich verstehe zwar nicht viel von der Hellseherei und hatte anfangs auch große Schwierigkeiten, daran zu glauben. Aber inzwischen zweifle ich nicht mehr daran, dazu habe ich sie schon viel zu oft funktionieren sehen. Die Wege des Herrn sind eben unergründlich.«
»Ich wünschte, alle stünden diesem Phänomen so aufgeschlossen gegenüber wie du. Manche glauben, es sei nichts als Humbug, und andere halten es gar für Teufelswerk.«
»Als dieser Tanner ermordet wurde, hast du verhindert, dass ein Unschuldiger für die Tat büßen musste. Das kann doch kein Teufelswerk sein, und wehe dem, der es so nennt!«
Rebekka hatte schon immer bewundert, mit welcher Courage Esther den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen
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