Glaub nicht es sei vorbei
»Na ja, er war zwar noch nicht besonders alt, aber wenn man bedenkt, wie er gelebt hat — kein anständiges Essen, zu viel Alkohol —, braucht man sich nicht zu wundern.«
»Er ist ermordet worden.«
Amys Elfengesicht wurde weiß. »Um Gottes willen! Wie denn? Und warum?«
»Ich weiß nur, was man sich im Krankenhaus darüber erzählt. Jemand hat ihm einen spitzen Gegenstand ins Auge gerammt. Einen Schraubenzieher, ein Messer oder einen Eisstößel.« Er zuckte die Schultern. »Warum, weiß ich nicht. Skeeter war bestimmt nicht der Typ, der sich herumprügelte.«
»0 Gott.« Amy schüttelte versonnen den Kopf. »Ich weiß noch, als ich klein war und er sich im Park immer mit den Eichhörnchen unterhielt. Ich hatte Angst vor ihm. Mama sagte, ich dürfe nicht mehr zu ihm sagen als >hallo<, wenn er mich ansprechen sollte. Sie nannte ihn einen von Gott Verlassenen.«
»Deine Mutter hat in einer Tour von Gott geredet, vor allem über Seine Unfehlbarkeit. Es muss schwer für sie gewesen sein, sich Skeeter als ein Geschöpf Gottes vorzustellen.«
Amy erschrak, hatte Angst, dieser Satz könne eine Kritik an Gott implizieren. »Gott schafft nicht alle Menschen gleich. Ich meine, in seinen Augen sind wir zwar gleich, aber in den unseren nicht.« Sie lächelte. Sie war nicht sicher, ob dieses Argument passend war, aber zumindest klang es gut. »Jedenfalls nannte sie Skeeter einen von Gott Verlassenen, und ich hab damals beschlossen, mit seinesgleichen zwar Mitleid zu haben, aber nie so enden zu wollen.«
Traurigkeit überschattete Alvins dunkle Augen hinter der dicken Brille, die die Neigung hatte, ihm auf die schmale Nase zu rutschen. »Dann hast du mit mir ja nicht gerade das große Los gezogen.«
Amy schüttelte den Kopf. »Aus dir spricht nur die Müdigkeit, Alvin Tanner! Sonst würdest du nicht so daherreden! Ich bin die glücklichste Frau auf der Welt.«
»Ich kann dir doch nicht einmal Ferien bieten.«
»Ich möchte nicht wegfahren. Ich fühle mich sehr wohl hier in Sinclair. «
»Dir bleibt ja auch gar nichts anderes übrig.« Er sah sich um. »Warum bist du eigentlich hier? Du warst doch gestern schon den ganzen Tag hier. Du hast dir frei genommen, damit du dich ausruhen kannst.«
»Hier zu sein ist gar nicht anstrengend«, beteuerte Amy rasch, damit er sie noch eine Weile hier sein ließ, obgleich Alvin nicht der Typ war, der seiner Frau etwas verbot. »Ich sitze viel und werde ohnehin nur ein paar Stunden bleiben. Außerdem muss ich immer daran denken, wie es mir zumute wäre, wenn unser kleiner Junge entführt würde. Wenn ich Todds Mutter in irgendeiner Weise helfen kann, möchte ich es gerne tun.«
»Das mit dem Jungen geht dir ziemlich an die Nieren, nicht?«
»Und wie! Dir doch auch.«
Alvin nickte. »Natürlich. Aber du hattest Bauchschmerzen und musst dich schonen. Und arbeiten gehen solltest du überhaupt nicht mehr.«
Amy lächelte. »Das geht doch nicht, Alvin. Wir brauchen das Geld. Und wenn das Baby erst einmal da ist ...«
»Wenn das Baby da ist, gehst du nicht mehr zur Arbeit. Du wirst daheim bleiben und nur noch Mutter sein!«
Alvins hohe Wangenknochen hatten sich rot gefärbt, und Schweiß trat ihm auf die Oberlippe. Amy erschrak und streichelte besorgt seinen Arm. »Schatz, das geht nicht.«
»Und ob es geht«, widersprach Alvin leidenschaftlich. »Ich werde schon dafür sorgen, dass es geht.«
Amy hatte noch nie viel besessen, aber sie war eine Frohnatur und glaubte an die grundlegende Güte des menschlichen Herzens und an die Gnade Gottes, der all Seine Geschöpfe liebte. Alvin dagegen hatte wenig Vertrauen in die menschliche Natur, liebte jedoch seine Frau abgöttisch. Er neigte außerdem zu schweren Depressionen. Amy glaubte, dass das tragische Schicksal seiner Mutter daran schuld war. Slim Tanner siechte im Gefängnis vor sich hin, weil sie vor Jahren ihren Mann umgebracht hatte. Er hatte sie verprügelt und hätte Alvin in seiner Raserei um ein Haar umgebracht. Alvin sprach nie darüber. Er ließ es auch niemals zu, dass Amy seine Mutter besuchte, weil die Gefängnisatmosphäre, wie er sagte, sie zu sehr aufregen würde; er selbst kam stets erschöpft und verzweifelt von seinen Besuchen zurück. In letzter Zeit jedoch machte sich der von Natur aus sanftmütige Alvin immer wieder in heftigen Wutanfällen Luft, die zwar nicht gegen Amy, wohl aber gegen ihrer beider missliche Lage gemünzt waren. Sie dachte, dass ihm das Baby Sorgen bereitete. Sie hatten es sich beide so
Weitere Kostenlose Bücher