Glaub nicht es sei vorbei
sie Regale voller Bücher, spürte die Kühle eines klimatisierten Raums, sah ein schlankes Mädchen mit langem schwarzen Haar an einem Tisch sitzen und ein Buch lesen, wobei es sich in einem Spiralblock Notizen machte. Rebekkas Blick war der eines heimlichen Beobachters, der sich in dem Raum umsah, in dem sich außer dem Mädchen nur noch ein junger Mann befand. Dieser gehörte eindeutig nicht zu dem Mädchen und war im Begriff zu gehen. Rebekka spürte, dass der Beobachter dies mit Genugtuung zur Kenntnis nahm. Er würde warten, bis das Mädchen allein im Raum war.
Bis Sonia alleine war.
Die Büsche ringsum gewannen wieder Konturen. Rebekka stand da wie gelähmt, mit kalten Händen und Schweiß auf der Stirn. Sean blickte zu ihr auf, winselte, berührte ihr Bein mit der Pfote. »0 Gott«, murmelte sie. »Jemand will Sonia umbringen.«
2
Dienstag, 20.20 Uhr
Rebekka machte kehrt und rannte zurück zur Lamplight Lane. Sean, dessen Leine ihr entglitten war, lief neben ihr her. Rebekka hatte schon am Nachmittag eine merkwürdige Verbindung zwischen sich und Sonia gespürt. Und so zweifelte sie jetzt, da sie ahnte, in welcher Gefahr Sonia schwebte, keinen Augenblick an ihrer Wahrnehmung.
Keuchend lief sie weiter, und es war ihr egal, was die Nachbarn von ihr halten mochten, wenn sie sie durch den Abend rennen sahen. Noch einmal schien die Landschaft um sie herum zu verblassen, und das Bild eines langen Tisches, hinter dem Bücherregale aufragten, schob sich darüber. Jemand blickte verstohlen durch einen Spalt zwischen den Büchern auf Sonias Hinterkopf. Rebekka sah durch die Augen des Beobachters, die langsam über die Gestalt des Mädchens wanderten, vom schwarzen Scheitel über das blaue T-Shirt, die schmale Taille, die weiche Wölbung der Hüften bis hinunter zu den kleinen nackten Füßen, die aus den Sandalen geschlüpft waren. Sonia saß auf einem Plastikstuhl, den sie ganz nah an den Tisch herangerückt hatte. Rebekka sah sogar die Armbanduhr des Mädchens und den hellrosa Lack auf ihren Nägeln. Der fremde Blick fing alles mit verspielter, obszöner Genauigkeit ein Rebekka wurde ein wenig übel.
Sie hastete den Fußweg entlang zum Haus und wäre beinahe gegen die geschlossene Tür gerannt. Sie klingelte wie wild, und Betty öffnete die Tür. »Um Gottes willen, was ist denn passiert, Liebes?«
»Ich habe keine Zeit für Erklärungen«, rief Rebekka, während sie, gefolgt von Sean, die Treppe hinaufstürzte. In ihrem Zimmer griff sie nach dem Telefon und rief die Polizei an. Bill war nicht da, und so erzählte sie hastig einem jungen Deputy, dass in der Bibliothek ein Mädchen in höchster Gefahr sei. »Und woher wissen Sie das, Ma'am?«
»Ich weiß es eben«, erwiderte Rebekka unwirsch. »Bitte sehen Sie nach. Das Mädchen heißt Sonia Ellis. Sie hat langes schwarzes Haar ... «
»Und wie war gleich wieder Ihr Name?«
»Rebekka Ryan. Wie ich schon sagte, sie hat langes schwarzes Haar.«
»Ach so, Rebekka Ryan. Die mit dem Zweiten Gesicht?«
Rebekka verstummte einen Augenblick. »Fahren Sie zur Bibliothek. Wenn Sie es nicht tun, werden Sie es bitter bereuen.«
»Wollen Sie mir drohen, Ma'am?«
»Ach, um Himmels willen«, schnaubte Rebekka und legte auf. Sie rief Bills Privatnummer an. Der Anrufbeantworter. Drei Minuten später hatte sie den Autoschlüssel in der Hand und war auf dem Weg zum Wagen. »Was um alles in der Welt ist denn passiert?«, fragte Betty und trippelte hinter ihr her. »Wohin fährst du?«
»Bitte pass auf Sean auf. Alles in Ordnung.« Rebekka brauste aus der Auffahrt, und Betty hielt verzweifelt Seans Leine fest. Es würde mindestens zehn Minuten dauern, bis Rebekka die Bibliothek erreichte, selbst wenn alle Ampeln auf Grün geschaltet waren und sie nicht wegen erhöhter Geschwindigkeit aufgehalten wurde. Das war zu lange. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft und suchten eine Lösung. Hätte nur dieser verdammte Deputy auf sie gehört. Und Bill hatte sie auch nicht erreicht. Vielleicht war er bei Molly. Sie griff nach ihrem Handy und wählte Mollys Nummer. Jemand hob ab, aber die Verbindung war so verrauscht, dass sie kein Wort verstand. Sie rief ihren Namen in den Hörer und dazu die Anweisung, dass ein Officer unverzüglich in der Bibliothek nach dem Rechten sehen müsse, wusste aber nicht, ob man sie gehört hatte.
»Verdammt, verdammt, verdammt!«, murmelte sie, als sie vor einem Stoppschild halten musste. Auf diese Weise würde sie es nie rechtzeitig zur Bibliothek
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