Glaub nicht es sei vorbei
steckte seinen Füller in die Brusttasche seines Hemds. Er lächelte Sonia probeweise zu, aber sie schenkte ihm keine Beachtung. Versager, dachte der Beobachter. Der Junge zögerte, griff sich dann seine Bücher und schlenderte an Sonias Tisch vorbei, wobei er ihr einen letzten hoffnungsvollen Blick zuwarf. Dann ging er, ohne den Beobachter eines Blickes zu würdigen, an ihm vorbei.
Hinter Rebekka drückte jemand auf die Hupe. Jäh kehrte sie in die unmittelbare Wirklichkeit zurück und sah, dass die Ampel längst auf Grün geschaltet und sie kostbare Sekunden verschenkt hatte.
Vierte Straße. Nur noch fünf Minuten zur Bibliothek. Genügend Zeit, um Sonia umzubringen. Noch einmal tippte Rebekka Mollys Telefonnummer ein. Immer noch besetzt. Ein zweites Mal die Polizei anzurufen, hätte auch wenig Sinn. Die Bibliothek. Einer ihrer Angestellten sollte Sonia suchen gehen, dachte Rebekka. Der Beobachter würde sich bestimmt nicht an zwei Menschen vergreifen, selbst wenn beide unbewaffnet wären. Sie rief die Telefonauskunft an, dann die Bibliothek. Eine männliche Stimme fragte gestelzt: »Bibliothek Sinclair. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja. Gott sei Dank.« Nein, sie durfte auf keinen Fall panisch klingen. Rebekka holte tief Luft. »In der Bibliothek ist ein Mädchen. Bitte rufen Sie sie an die Bücherausgabe. Sie ist etwa achtzehn Jahre alt, schlank, sehr hübsch und hat langes, schwarzes Haar ...«
»Verstehe. Ist etwas passiert? Haben Sie schlechte Nachrichten für sie?«
»Nein. Ich meine, ja. Ich muss sie unbedingt sprechen. Es ist dringend.«
»Sicher ist es das.«
»Was?«
»Sie sprechen von Sonia Ellis. Ich weiß, wer Sie sind — Kelly Keene. Sie haben sie schon einmal hier aufgestöbert und sie mit Ihren unverschämten Fragen behelligt, und ich habe sowohl von ihr selbst als auch von ihrer Mutter Anweisung erhalten, Sie ihr vom Leib zu halten. Sonia ist eine prachtvolle junge Dame. Höflich und ruhig. Ich möchte nicht, dass sie gestört wird, und finde es empörend, welcher Tricks Sie sich bedienen, um an sie heranzukommen. Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?«
Ja, ich halte dich für einen wichtigtuerischen Idioten, dachte Rebekka wütend. »Das ist kein Trick ...«
»Nicht mit mir, Ma'am. Heben Sie sich Ihre billige Reportermasche für einen Dümmeren auf.«
Klick. Aufgelegt. Da hatte sich Sonia einen wunderbaren Beschützer ausgesucht. Aber Rebekka hatte schon einmal eine Kostprobe von Kelly Keenes Aufdringlichkeit erhalten. Kein Wunder, dass Sonia alles versuchte, ihr auszuweichen. So ein Pech. Aber vielleicht war es gar kein Pech. Vielleicht war es Rebekkas Schicksal, Katastrophen zu erahnen, die sie nicht verhindern konnte.
Die Gewitterwolken, die Sean vorhin so geängstigt hatten, waren nun direkt über ihr, zogen bedrohlich über einen gräulich gelben Himmel. Normalerweise wäre es noch eine Stunde später nicht so dunkel, wie jetzt. Der Wind fegte durch die Straßen, und die Vögel suchten Zuflucht vor ihm.
Rebekka bog nach rechts auf eine wenig befahrene Straße, die zum Ohio hinunterführte. Der Ohio war hier in Sinclair fast eine Viertelmeile breit und bildete inzwischen aufgrund des aufkommenden Sturms heftige Wellen, die gischend gegen die Wände der voll beladenen Frachtkähne schlugen.
Rebekka drosselte die Geschwindigkeit, als ihr Blick sich erneut trübte. Noch einmal schob sich ein Bild über die wirkliche Welt. Sie sah den Fluss, darauf ein mit fröhlichen Menschen beladenes hölzernes Floß, das in der Sonne dahintrieb und sich einem Blockhaus näherte, das nahe am Ufer stand. Wunderschöne blaugrüne Hügel ragten hinter der Hütte empor, und am azurblauen Himmel zog ein Adler seine Kreise.
Was um alles in der Welt war das?, fragte sich Rebekka und bemühte sich, durch das Bild hindurch wieder die Wirklichkeit zu sehen. Was hatte diese märchenhafte Szene mit Sonia zu tun? Sie konnte doch unmöglich echt sein, sie mutete eher wie ein Gemälde an.
Rebekka fiel es wie Schuppen von. den Augen, als sie in dem Bild, das sie eben mit den Augen des heimlichen Beobachters gesehen hatte, die dilettantische Wandmalerei im sogenannten »Pioniersaal« im zweiten Stock der Bibliothek wiedererkannte.
Rebekka bog nach rechts ab, auf die First Avenue, die parallel zum Fluss verlief. Das Wasser Wirkte bei diesem Wetter düster und voller Untiefen, und aus den schwarzen Wolken am schiefergrauen Himmel zuckten bösartige Blitze. Am Ende des Häuserblocks kam unvermittelt die
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