Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
»Dann bring sie doch einfach mal mit nach Hause. Mal sehen, ob sie mir gefällt. Du wirst ja sicher nicht schon wieder einen Fehler machen wollen.«
»Du warst kein Fehler«, sagte er.
»Hm. Danke, dass du das sagst.« Sie kramte ihre Autoschlüssel aus ihrer Handtasche. »Du bist also noch immer mein bester Freund?«
»Noch immer und für immer.«
Was er nicht aussprach, war etwas, das sie auch so wusste: Sie konnten nicht ewig so weitermachen wie jetzt. Obwohl sie geschieden waren, lebten sie weiter so wie immer, mit dem einzigen Unterschied, dass sie kein gemeinsames Schlafzimmer mehr hatten und nicht mehr miteinander schliefen. Geblieben war die tiefe Freundschaft, die sie schon immer miteinander verbunden hatte und die letztlich die Wurzel des Problems war. Seit dem Tag, an dem sie sich entschlossen hatten, sich scheiden zu lassen, hatte Manette oft gedacht, dass vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn sie Kinder gehabt hätten. Dann wäre ihre Beziehung vermutlich nicht an den Punkt gelangt, wo sie nur noch über die Vor- und Nachteile einer selbstreinigenden und selbstdeodorisierenden Toilette hatten reden können – und wie man so ein Produkt am besten vermarktete. Wenn man es so weit kommen ließ, brauchte man sich nicht zu wundern, wenn irgendwann der Zauber weg war. Eine einvernehmliche Scheidung war ihnen als die beste Lösung erschienen.
Ihr war natürlich klar gewesen, dass Freddie irgendwann eine Neue haben würde. Sie selbst hatte auch nicht vor, ewig allein zu bleiben. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass es so bald passieren würde. Und jetzt fragte sie sich, ob sie insgeheim gehofft hatte, dass es gar nicht passieren würde.
Vorsichtig fuhr sie durch das Tor der Margaret Fox School. Sie war noch nie hier gewesen, aber Niamh hatte ihr erklärt, wo sie Tim finden würde. Es gebe einen beaufsichtigten Wartebereich in der Nähe des Verwaltungsgebäudes, hatte sie gesagt. Manettes Name würde auf einer Liste von Personen stehen, die Tim abholen durften. Sie solle ihren Ausweis mitnehmen. Oder noch besser ihren Pass, falls sie einen habe.
Sie fand Tim ohne Probleme, da die Einfahrt zur Schule direkt auf das Verwaltungsgebäude zuführte. Der Sohn ihres Vetters saß vornübergebeugt auf einer Bank, seinen Rucksack neben sich auf dem Boden. Er tat das, was nach Manettes Erfahrung die meisten Teenager heutzutage in jeder freien Minute taten – er verschickte eine SMS .
Sie hielt am Bordstein, aber Tim war so auf sein Handy konzentriert, dass er nicht einmal aufblickte. Das gab Manette Gelegenheit, ihn einen Moment lang zu beobachten. Nicht zum ersten Mal staunte sie darüber, welchen Aufwand Tim betrieb, um die Ähnlichkeit mit seinem Vater zu verbergen. Ebenso wie Ian war er spät in die Pubertät gekommen, und er befand sich immer noch mitten in einem Wachstumsschub. Er war also ziemlich klein für sein Alter, und ohne die Schuluniform wirkte er noch kleiner, da er nur unglaublich weite Sachen trug, die ihm um den schmächtigen Körper schlackerten. Selbst seine Baseballmütze schien ihm zu groß zu sein. Seine Haare, die er ewig nicht hatte schneiden lassen, hingen ihm bis über die Augen. Die musste er natürlich besonders verstecken, denn sie waren genauso groß und braun und klar wie die seines Vaters – und sie waren wie diese der perfekte Spiegel seiner Seele.
Manette sah, dass er ärgerlich die Brauen zusammenzog. Offenbar gefiel ihm nicht, was er als Antwort auf seine SMS erhalten hatte. Er riss an seinen Fingern und biss dabei die Zähne so heftig zusammen, dass Manette es nicht mitansehen konnte. Sie sprang aus dem Auto und rief seinen Namen. Er blickte auf. Einen Augenblick lang wirkte er überrascht – Manette hätte gern gedacht freudig überrascht, aber das war sicherlich Wunschdenken –, dann war der finstere Blick wieder da. Er rührte sich nicht von seiner Bank weg.
»Hey, komm schon«, rief sie. »Heute bin ich deine Chauffeuse. Ich brauche deine Hilfe.«
»Ich hab schon was vor«, erwiderte er trotzig und gab eine neue SMS ein – oder tat zumindest so.
»Tja, ich weiß nicht, wie du von hier wegkommen willst«, entgegnete sie, »denn ich bin die Einzige mit einem fahrbaren Untersatz, die dir heute ihre Dienste anbieten wird.«
»Und wo ist Kaveh?«
»Was hat Kaveh denn damit zu tun?«
Tim blickte von seinem Handy auf und schnaubte verächtlich. Das Schnauben galt natürlich ihr, es war seine Art, blöde Kuh zu sagen, ohne es auszusprechen.
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