Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
bitte? Willst du etwa behaupten, dass Tim … Mein Gott. Du bist ja wirklich nicht bei Trost.«
Es hatte keinen Zweck, das Gespräch weiterzuführen. Manette ließ ihren Kaffee Kaffee sein und ging. Noch ehe sie die Haustür erreichte, hörte sie von draußen Schritte, und gleich darauf rief jemand: »Niamh? Süße? Bist du da?«
Als sie die Tür, die nur angelehnt war, ganz öffnete, stand ein Mann vor ihr, in der Hand einen Strauß Chrysanthemen. Der Ausdruck freudiger Erwartung in seinem Gesicht wies ihn zweifelsfrei als den Absender des Liebeseimers aus, der gekommen war, um sich mit dem darin enthaltenen Spielzeug zu vergnügen, dachte Manette. Ein feiner Schweißfilm glänzte auf seinen pummeligen Wangen.
»Oh!«, sagte er und schaute sich um, als hätte er sich in der Haustür vertan.
»Komm rein, Charlie«, rief Niamh, die hinter Manette stand. »Meine Schwägerin wollte gerade gehen.«
Charlie. Er kam Manette irgendwie bekannt vor, doch sie konnte sich nicht erinnern, woher. Bis er nervös zum Gruß nickte und sich an ihr vorbei ins Haus schob. Er roch nach Küche und noch irgendetwas anderem. Zuerst dachte Manette an Fish ’n Chips, aber dann fiel ihr ein, dass er der Eigentümer einer der drei chinesischen Imbissbuden am Marktplatz in Milnthorpe war. Sie hatte mehr als einmal auf dem Heimweg von einem Besuch bei Nicholas dort angehalten, um für Freddie etwas zum Essen mitzunehmen. Sie hatte diesen Mann bisher immer nur in Kochkleidung gesehen, die weiße Jacke mit Fett und Sojasoße bespritzt. Und jetzt war er hier, doch was er im Schilde führte, hatte absolut nichts mit Chop Suey und Frühlingsrollen zu tun.
Er sagte gerade zu Niamh: »Du siehst zum Anbeißen aus!«
Sie kicherte. »Das hoffe ich doch. Hast du denn auch Appetit mitgebracht?«
Sie lachten beide. Dann schloss sich die Tür hinter Manette.
Blanke Wut überkam sie. Irgendwie, dachte sie, musste Ians Witwe zur Vernunft gebracht werden. Manette war klug genug zu wissen, dass das außerhalb ihrer Macht stand. Aber sie konnte sehr wohl dafür sorgen, dass sich für Tim und Gracie etwas änderte.
WINDERMERE – CUMBRIA
Die Berichte des Gerichtsmediziners zu beschaffen, war nicht schwierig gewesen, und das lag vor allem an St. James’ gutem Ruf als Gerichtssachverständigem. Natürlich wurde seine Sachkenntnis in diesem Fall gar nicht gebraucht, da der Coroner seinen Bericht längst abgegeben hatte, aber ein Anruf und eine Fantasiegeschichte über einen Vortrag für Medizinstudenten hatten ausgereicht, um alle entscheidenden Dokumente in die Hände zu bekommen. Die Unterlagen bestätigten, was Lynley ihm bereits über den Tod von Ian Cresswell berichtet hatte, und sie enthielten darüber hinaus einige zusätzliche, interessante Details. Der Mann hatte einen heftigen Schlag gegen den Kopf erlitten – in der Nähe der linken Schläfe –, der ihm das Bewusstsein geraubt und eine Schädelfraktur verursacht hatte. Die Kopfverletzung hatte Cresswell sich an dem gemauerten Steg zugezogen, und obwohl seine Leiche fast neunzehn Stunden lang im Wasser gelegen hatte, bis sie gefunden wurde, war es – zumindest laut Bericht des Gerichtsmediziners – angeblich möglich gewesen, einen Bezug zwischen der Kopfwunde und der Form des Steins herzustellen, auf den er aufgeschlagen war.
St. James runzelte die Stirn. Er fragte sich, wie das möglich war. Neunzehn Stunden im Wasser waren eine lange Zeit, in der eine Wunde sich normalerweise so stark veränderte, dass man nichts mehr an ihr ablesen konnte, es sei denn, man fertigte eine Rekonstruktion an. Er suchte nach einem entsprechenden Bericht, fand jedoch keinen. Er machte sich eine Notiz und las weiter.
Ian Cresswell war ertrunken, wie die Untersuchung der Lunge ergeben hatte. Hämatome am rechten Bein legten die Vermutung nahe, dass er beim Fallen mit dem Fuß im Schuh des Stemmbretts hängen geblieben war, was das Boot zum Kentern gebracht hatte. Cresswell war so lange unter Wasser gehalten worden, bis sich der Fuß – vielleicht durch die sanften Wellen des Sees – irgendwann gelöst hatte. Erst dann war die Leiche des Mannes an die Oberfläche getrieben.
Der toxikologische Bericht hatte nichts Auffälliges ergeben. Cresswell hatte Alkohol im Blut gehabt, war aber nicht betrunken gewesen. Ansonsten besagte der Bericht des Gerichtsmediziners, dass der Mann vollkommen gesund und für sein Alter – Anfang vierzig – außerordentlich fit gewesen war.
Da es sich um einen nicht beobachteten
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