Glauben Sie noch an die Liebe
hat mir in einer Sache unbewusst sehr geholfen. Zu dem Zeitpunkt, als ich mich selbstständig machte, war ich bereits Vorstand einer börsennotierten AG mit Pensionsberechtigung und allem, was dazugehört, hatte also schon relativ viel Erfolg. Aber der Erwerb der Georgsmarienhütte hat, obwohl das Ding ja nichts gekostet hat, durch die Wirtschaftsprüfer und Anwälte all das verzehrt, was ich gespart hatte. Außerdem habe ich einen dreistelligen Millionenbetrag an Schulden übernommen – ich hatte also überhaupt keine soziale Absicherung. Trotzdem wusste ich, dass wir nicht verhungert wären, wenn ich mal ein Jahr lang kein Einkommen gehabt hätte, weil meine Frau für unsere junge Familie und mich hätte sorgen können. Sie musste es nicht tun, aber in dieser wichtigen Phase meines Lebens hat mir meine Frau sozusagen einen Rettungsschirm geboten.
Besprechen Sie auch geschäftliche Dinge mit Ihrer Frau?
Eigentlich besprechen wir Fragen, die den Beruf des anderen betreffen, sehr selten. Außer, wenn einer von uns mal eine Rede halten muss. Dann fragen wir uns gegenseitig: »Wie findest du das?« Aber die Lösung von Geschäftsproblemen haben wir immer aus unserem Privatleben rausgehalten.
Wie stark beeinflusst Ihre derzeitige Position bei RWE Ihr Privatleben?
Die Familie hat sich irgendwann damit abgefunden, dass ich besser genießbar bin, wenn ich morgens eine Stunde telefoniert habe. Dann habe ich kein schlechtes Gewissen, denn ich habe mich erkundigt. Normalerweise frage ich morgens meine Sekretärin: »Ist etwas, das ich tun könnte oder sollte?« Dieses Telefonat ist nicht durch eine E-Mail oder eine SMS zu ersetzen. Die Sprache überträgt viel mehr Informationen. Meine Sekretärinnen arbeiten teilweise seit über zwanzig Jahren mit mir zusammen. Allein an der Art und Weise, wie sie »Guten Morgen« sagen, erkenne ich genau, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Dann kann ich sofort nachfragen. Deshalb brauche ich morgens diesen persönlichen Kontakt. Und die Familie akzeptiert das auch. Die wissen: Lass den Papi jetzt eine Stunde allein, dann ist er zufrieden.
Als das Angebot von RWE kam, hielt sich das Verständnis Ihrer Familie für Ihre Begeisterung zunächst sehr in Grenzen. Gab es einen regelrechten Kampf mit Ihrer Frau, ob Sie den Job annehmen dürfen oder nicht?
Kampf ist gut. Meine Frau war dagegen.
Warum?
Weil sie der Meinung war, dass dies erst einmal nicht meinem Naturell entspräche und dass ich mich dabei gesundheitlich kaputt machen würde.
Die Sorgen seiner Frau vor der Annahme des Chefpostens bei RWE waren offenbar nicht unbegründet. Denn rund drei Jahre nach seinem Amtsantritt teilte der Konzern im November 2011 mit, Großmann sei wegen Herzkammerflimmerns behandelt worden und erhole sich zurzeit im Ausland. Zuvor war mehr als eine Woche lang über den Gesundheitszustand des RWE-Vorstandsvorsitzenden gerätselt worden. Die Bild zitierte Großmann mit den Worten: »Ende November komme ich zurück und bin dann wieder mit Leib und Seele unterwegs für RWE.«
Als wir Jürgen Großmann im Frühjahr 2012 in Hamburg treffen, ist er immer noch mit Leib und Seele unterwegs für RWE. Und er sieht kerngesund aus, zumindest in seinem rotbraun gebrannten Gesicht. Das Gehen fällt dem Riesen aber offensichtlich schwer. Während er uns mit gequälter Miene die Treppe zu seinem Konferenzzimmer hinaufführte, hatte er uns von seinen Knieproblemen erzählt. Eigentlich müsse er sich dringend operieren lassen, aber das werde er niemals tun, solange er noch bei RWE sei. Schließlich würden die ihn ja nicht für eine Knieoperation bezahlen, sagt er trocken. Damit warte er, bis er »da raus« sei, und mache das dann in seiner Freizeit.
Warum wollten Sie sich eigentlich unbedingt die Strapazen der Spitzenposition bei RWE antun? Finanziell hatten Sie das ja schon längst nicht mehr nötig …
Hier mal wieder ein gutes Beispiel dafür, dass Geld nicht meine Triebfeder ist. Wenn ich abgelehnt hätte, dann hätte ich mich wohl mein Leben lang gefragt, ob ich mir das nicht zugetraut hätte, ob ich vor einer Aufgabe davongelaufen sei. Ich bin in meinem Leben bisher ein einziges Mal davongelaufen, und zwar vor einer Mathearbeit in der Mittelstufe. Da war mir so schlecht, und ich habe gekotzt. Als ich nach Hause kam, fragte mich meine Mutter: »Bist du weggelaufen? War die Arbeit schon ausgeteilt? Saßest du in der Klasse?« Ich meinte nur: »Ja.« Da sagte sie: »Du hättest vorher gehen können. Aber wenn du
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