Glauben Sie noch an die Liebe
Kanzleramt ein, die so wenig emotional auftritt wie keiner ihrer Vorgänger. Ist sie überhaupt zu Gefühlen fähig?
Tatsächlich ist sie eigentlich die Preußin im Kanzleramt, mit einer preußischen Nüchternheit. Sie wartet ab, was am Ende aus der Geschichte herauskommt. Sie ist zwar definitiv zu Emotionen fähig, aber als Naturwissenschaftlerin kommt es für sie mehr darauf an, was das Ergebnis des jeweiligen Experiments ist. Was während eines demokratischen Verfahrens an Nebengeräuschen passiert, interessiert sie wenig. Sie spürt ja auch, dass die Menschen ihre Herangehensweise akzeptieren. Ich persönlich finde das eine wohltuende Art, Politik zu machen. Ob sie Emotionen herauslässt, wenn sie zu Hause ist, will ich nicht völlig ausschließen, aber eine gewisse Nüchternheit scheint mir auch in der Beziehung zwischen diesem Naturwissenschaftlerpaar zu herrschen.
Oft wirkt die Kanzlerin nicht nur nüchtern, sondern fast vorsichtig. Bisher blieb kaum eine Rede mit großem Pathos von ihr in Erinnerung. Könnte dies mit ihrer ostdeutschen Sozialisierung zu tun haben?
Ich glaube, ja. Große pathetische, emphatische Reden, wie sie Willy Brandt beherrschte oder wie sie auch Richard von Weizsäcker mit der Rede zum 8. Mai zelebrieren konnte, sind nicht ihr Ding.
Welcher Natur ist denn die Liebe der Deutschen zu Angela Merkel? Es ist ja beachtlich, dass sie trotz ihrer Nüchternheit mehrfach gewählt wurde.
Die Deutschen lieben Angela Merkel nicht, aber sie achten sie. Anerkennung und Respekt sind die Hauptemotionen, die da mitschwingen.
Zielt Angela Merkel auch gar nicht so sehr auf die Liebe ihres Volkes ab?
Von ihrem Temperament her braucht sie das Gefühl, geliebt zu werden, nicht so sehr. Auf Achtung und Respekt legt sie Wert, aber ob ihr die Wählerstimmen am Ende aus Liebe gegeben werden oder aus Respekt, ist ihr im Grunde völlig egal.
Die Deutschen sind ihrer Kanzlerin ja sehr ähnlich in ihrer Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen. So ist zumindest unser Bild im Ausland. Ist das nicht ein großes Missverständnis, weil wir doch eigentlich die Nation sind, die die Romantik erfunden hat?
Ich glaube, die Deutschen sind von ihrer Grundkonsistenz her durchaus zu großen Emotionen fähig, das ist auch ein Befund, den Elisabeth Noelle-Neumann entgegen dem Klischee in ihren sehr grundsätzlichen Befragungen herausgefunden hat. Ich glaube, das Klischee ist in diesem Jahrhundert der beiden Weltkriege entstanden, in der jeweiligen Kriegspropaganda. Und in der Nazizeit wurde Empathie ja regelrecht untersagt. Aber in meiner Wahrnehmung wandelt sich auch unser Bild im Ausland schon seit längerer Zeit. Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 hat in der Hinsicht viel bewirkt. Kürzlich gab es sogar eine Umfrage der BBC in vielen verschiedenen Ländern, bei der erstaunlicherweise die Deutschen zum beliebtesten Volk auf Erden gewählt wurden. Da ändert sich offenkundig einiges.
Das Bild des gefühlskalten Deutschen ist also nur ein Vorurteil?
Genau. Ich beobachte insgesamt, dass kollektive Vorurteile eine viel zu große Rolle spielen. Meine Frau ist gebürtige Ungarin. Machen wir den Test: Was verbinden Sie mit Ungarn?
Schöne Frauen, große Gastfreundschaft und den Kräuterlikör Unicum. Wir waren mal auf Klassenfahrt in Ungarn.
(Lacht.) Das sind immerhin individuelle Eindrücke. Das übliche deutsche Klischee von Ungarn ist ein bisschen geprägt von dem Film »Ich denke oft an Piroschka«: Die Ungarn spielen Zigeunermusik auf der Geige, tanzen und sind sentimental. Das gibt es alles, aber das könnten Sie auch in Freiburg haben.
Sind Sie oft in Ungarn?
Ja, ich habe meinem Schwiegervater bei unserer Hochzeit versprochen, dass ich die »geraubte Braut« viermal im Jahr mit den Eltern zusammenbringe. Wenn eine ungarische Landestochter nach außen heiratet, sagt man, »sie wird geraubt«. Ich finde, das ist ein schöner, alter Begriff. Tatsächlich schaffe ich es auch, die Braut immer wieder nach Ungarn zurückzubringen. Und Deutschland und Ungarn sind gar nicht so unterschiedlich. Das ist Mitteleuropa. Aus unserer Sicht ist Ungarn ja Balkan, was völlig falsch ist. Da könnte ich mich furchtbar aufregen. In meiner Wahrnehmung sind die Ungarn genau wie wir: genauso kalt, genauso warm und in der Liebe zu allem fähig. Daran sieht man, dass kollektive Vorurteile mit großer Vorsicht zu genießen sind.
Trotzdem konfrontieren wir Sie mit einem weiteren Vorurteil: Die Deutschen können sich selbst nicht lieben.
Auch das
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