Gleichklang der Herzen
von ihren Schwierigkeiten und dass sie hoffe, Nicole könnte ihr helfen. Denn schon früher hatten sie sich immer in allem beigestanden.
Nicole war zwei Jahre älter als sie, und sie war schon seit achtzehn Monaten in London. Sie schrieb begeisterte Briefe und berichtete von einer wunderbaren Stellung, die sie in einer Ballettschule gefunden hätte.
Sie schickte ihren Eltern Geld, und die beiden waren sehr stolz auf ihre tüchtige Tochter. Sie waren daher in der Lage, sich ein wenig Luxus zu leisten.
Ich kann auch tanzen, sagte sich Romana. Nicht so gut wie Nicole, aber gut genug, um kleine Kinder zu unterrichten, während Nicole sich um die älteren kümmert.
Sie hatte nur eine vage Vorstellung von einer Ballettschule. Aber Nicole hatte alles in so leuchtenden Farben geschildert, dass es sich um eine ganz besondere Schule handeln musste.
Während Romana in der überfüllten Postkutsche saß, hatte sie viel Zeit, um über alles nachzudenken. Dieser Plan, nach London zu gehen, lenkte sie von der Trauer um den geliebten Vater ab.
Niemand war seit dem Tod ihrer Mutter liebevoller zu ihr gewesen als er. Er war ein so kluger Mann, und er hatte ihr in allen Dingen, die sie interessierten, Auskunft geben können.
Sie war stolz gewesen, dass sie ihm schon seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr bei seinen Büchern helfen konnte.
Er hätte gern auch Nicole mitmachen lassen. Doch sie lachte nur darüber, denn sie hatte nur das Tanzen im Kopf.
Oft hatte sie Romana gedrängt, die Bücher fortzuwerfen und mit ihr über die Felder zu laufen oder mit ihr auf der Wiese zu tanzen, wenn der alte Musikant des Dorfes auf der Geige spielte. Dieser alte Mann war von Nicoles Anmut ganz fasziniert.
Niemand konnte aufregender, liebevoller und mitreißender sein als Nicole. Sie war die Ältere, und sie bestimmte über alle ihre Abenteuer.
Romana hatte sich nie um ihr eigenes Aussehen gekümmert. Sie war zufrieden damit, die Freundin zu bewundern.
Als die Postkutsche London fast erreicht hatte, ging Romana durch den Kopf, ob Nicole sich ihrer vielleicht schämen würde, denn ihre Kleider waren immer unmodisch gewesen. Sie hatte sich noch nie darum gekümmert, welche Mode im Augenblick gerade maßgebend war.
Romana hatte bei einem Aufenthalt an einer Poststation verschiedene elegant gekleidete Herren und Damen gesehen. Die Damen trugen glatt fallende Gewänder mit hoher Taille, die fast durchsichtig waren. Seidenbänder betonten die Brüste, und auf dem Kopf hatten sie hohe, breitrandige Schutenhüte, deren Ränder mit Spitzen verziert waren.
Mit offenem Mund hatte Romana sie angestaunt.
Ich fürchte, Nicole wird meinen, dass ich aus der Steinzeit komme, überlegte sie. Doch dann lenkte sie sich mit dem Gedanken ab, dass sie beide viel lachen würden, so; wie sie es früher getan hatten.
Ich bin sicher, dass mir Nicole ein paar von ihren alten Kleidern leihen wird, dachte Romana weiter. So lange, bis ich Geld habe, um mir neue Sachen zu kaufen.
Trotzdem hatte sie sich etwas unbehaglich gefühlt, als sie in der Mietkutsche nach Chelsea gefahren war.
Und nun war sie sicher, dass der elegante Herr mit den kühl blickenden Augen abfällig ihre weiten Röcke betrachtete, die noch dazu von der tagelangen Reise zerknittert waren.
„Haben Sie die Absicht, hier über Nacht zu bleiben?“, fragte er.
„Wenn Nicole mich haben will“, antwortete Romana. „Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll.“
Sie war plötzlich sehr nervös und ängstlich. Vielleicht konnte Nicole sie gar nicht gebrauchen? Wenn sie gar entsetzt über ihr Kommen war? Was sollte sie dann tun?
Panik erfasste sie. Als sie den Herrn gerade fragen wollte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie Nicole sehen könnte, war ein Klopfen an der Tür zu hören, und ein Diener trat in den Salon.
„Ja?“
Es war nicht zu überhören, dass der Herr ungeduldig war.
„Er ist besinnungslos, Mylord.“
„Gut. Sehr gut.“
Nun drückte die Stimme des Herrn große Zufriedenheit aus. Und Romana betrachtete ihn mit noch mehr Furcht als vorher. Er war ein Lord! Nicole hatte in keinem ihrer Briefe geschrieben, dass sie einem Herrn mit einem solch hohen Titel begegnet war.
Romana fiel jetzt erst auf, dass Nicole in ihren Briefen an die Eltern nur sehr wenige Leute mit Namen erwähnt hatte.
Sie hatte nur über die Schule geschrieben und über die gemütliche Wohnung, die sie in Chelsea gefunden hatte. Von einem Haus hatte sie nichts erwähnt. Ein ganzes Haus, das sie
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