Gleichklang der Herzen
weiter, bald stärker, bald schwächer. Während sie arbeitete, war Ravella darauf gefasst, dass das Getümmel jeden Augenblick aufhören und die Zigeunerin zurückkehren könnte.
Sie hatte Glück. An einer Seite des Brettes fehlten die Nägel. Es gelang ihr, die Axt ganz darunter zu schieben. Nun hob sie das Brett so weit an, dass sie die Hand darunterstecken konnte. Sie zog und stemmte sich mit ihrer ganzen Kraft gegen das Brett. Das Holz splitterte und bohrte sich in ihre Haut. Sie merkte es kaum, so sehr war sie vom Gedanken an die Flucht besessen.
Wieder setzte sie an, und nun krachte es im Brett. Sie konnte es an einem Ende um fast zwei Fuß hochstemmen. Was lag darunter? Sie konnte es in der Dunkelheit nicht erkennen, war aber sicher, dass es der Erdboden war. Jetzt wagte sie es nicht mehr, noch länger zu warten. Sie musste versuchen, sich durch die enge Öffnung zu zwängen.
Zum Glück war der Boden des Wagens mit breiten Brettern ausgelegt, und Ravella war klein und schlank. Sie setzte sich auf den Boden und ließ die Beine durch die Lücke nach unten baumeln. Mit Erleichterung spürte sie unter den nackten Sohlen trockenes Gras. Die Schwierigkeit bestand darin, den ganzen Körper hindurchzuzwängen.
Es war sehr hart. Sie zerkratzte sich das Kinn, zerriss sich die Lumpen an einem Nagel, während ihr ein anderer Nagel in die Schulter schnitt. Aber Ravella quetschte und zappelte so verzweifelt, dass sie endlich fast wie ein Pfropfen aus dem Flaschenhals nach unten schoss. Sie fiel hin und rang nach Atem.
Sofort raffte sie sich wieder auf, da sie keine Zeit verlieren durfte. Der Kampf der verfeindeten Zigeuner dauerte noch an, nur kam es ihr so vor, als sei der Lärm nicht mehr so stark wie früher. Auf dem Bauch kriechend, fand sie sich nach einer Weile außerhalb des Bereichs der Wohnwagen am Rand eines Weizenfeldes. Auf allen Vieren schob sie sich auf einem Karrenweg weiter vor.
Als sie glaubte, außer Sichtweite zu sein, und der Lärm schwächer wurde, erhob sie sich. Der Karrenweg schien in Serpentinen weiterzulaufen. Sie setzte sich in Trab. Wenn sie bereits am Tag ihrer ersten Flucht schnell gelaufen war, um ihren Verfolgern im Wald zu entkommen, so lief sie jetzt noch viel schneller. Sie wusste ja, welche Strafe auf sie wartete, falls man sie einholte und zur Rückkehr zwingen würde.
Weiter und weiter rannte sie, bis sie an ein Gatter kam. Dahinter erstreckte sich die Landstraße. Sie schöpfte Atem und sah sich um. Es hatte den Anschein, als ob niemand sie verfolgte. Aber noch fühlte sie sich nicht in Sicherheit und lief auf der Straße weiter.
Etwa nach vierhundert Metern sah sie die Dächer einiger Bauernhäuser. Sie gehörten zu einem kleinen, weit auseinandergezogenen Dorf. Im ersten Augenblick wollte sie an eine der Haustüren klopfen und um Schutz bitten, aber dann besann sie sich auf ihr Aussehen. So zerlumpt, schmutzig und ungekämmt, wie sie war, würde man sie für eine Zigeunerin halten. Es würde schwer sein, überhaupt Zuhörer für ihre Geschichte zu finden.
Jetzt war sie mitten im Dorf. Hinter den Fenstern waren die Vorhänge zugezogen. Alles war still, nur ein streunender Hund bellte Ravella an und beschnüffelte ihre Beine. Sie redete ihm gut zu, und er wedelte mit dem Schwanz, als wolle er sich für die unfreundliche Begrüßung entschuldigen.
In der Nähe befanden sich mehrere, mit Stroh gedeckte Bauernhäuser. In einiger Entfernung von der Straße lag ein Gutshof. Sie würde an eine dieser Türen pochen müssen, aber dann entdeckte sie am Rand des Gemeindegrüns ein Rundhaus. Es war in der für dörfliche Gefängnisse üblichen Art erbaut. Die Mauern waren gerundet, die hohen Fenster vergittert. Daneben lag das Haus des Dorfpolizisten.
Jetzt wusste Ravella, was sie zu tun hatte. Sie lief auf das Haus zu und hämmerte gegen die Tür. Wie sie erwartet hatte, regte sich zunächst, niemand. Auf dem Lande haben die Leute einen tiefen Schlaf. Wieder und wieder hämmerte sie mit den Fäusten gegen die Tür. Endlich wurde das Fenster des Schlafzimmers im Obergeschoss geöffnet. Ein Mann mit einer Nachtmütze steckte den Kopf heraus.
„Was wollen Sie?“
„Sind Sie der Polizist?“
„Bin ich. Was wollen Sie von mir?“
„Kommen Sie herunter, dann sage ich es Ihnen.“
„Wer hat Sie geschickt?“, fragte er misstrauisch und beugte sich weiter vor, um sie zu erkennen.
Ravella drückte sich so gut wie möglich ins Dunkle, damit er nicht ihre Lumpen sah.
„Es ist
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