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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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Massagesessel und unterdrückte den Wunsch, ihn einzuschalten. Auf dem kleinen Tisch daneben lagen Bücher. Ernährung – Bewegung – Gesundheit . Ich bin dann mal schlank . Das Anti-Jojo-Prinzip . Dicke Männer schlank gekocht . Neben diesem Stapel ein umfangreicheres Buch: Zhuangzi . Das klassische Buch daoistischer Weisheit. Das hatte wahrscheinlich nichts mit Abnehmen zu tun, aber Super Waling wollte offenbar etwas ändern in seinem Leben, und das war eine gute Neuigkeit. Eine sehr gute. Gieles nahm das Buch in die Hand und blätterte darin. In der Küche summte der Staubsauger.
    Ein Kapitel handelte von der Höchsten Freude. Darin erzählte der Autor mit dem unaussprechlichen Namen von einem Adligen namens Lu, der einen Seevogel in seinen Palast mitnahm. Er bot ihm ausgesucht gutes Fleisch und dazu Wein an, doch der Vogel wollte nichts essen und trinken, und nach drei Tagen starb er. Wollen wir also Vögel so füttern, wie sie ernährt werden sollten, dann müssen wir sie im tiefen Wald auf Bäumen sitzen, über sandige Inseln wandern sowie auf Flüssen und Seen schwimmen lassen, dann müssen wir sie Schmerlen und Elritzen fressen und in Schwärmen fliegen lassen, bis sie sich niederlassen, und wir müssen sie in Selbstzufriedenheit in Ruhe lassen.
    Gieles blätterte um. Fische wohnen im Wasser und leben; wollten Menschen im Wasser leben, so würden sie sterben. Sie sind einfach grundverschieden, und so unterschiedlich …
    Eine Toilettenspülung wurde betätigt. Es klingelte. Gieles warf das Buch aufs Tischchen und rannte zur Haustür.
    Vor ihm stand Meike in ihrem Friseursalon-Outfit, hinter ihr Dolly. »Hi«, sagte Meike und kam sofort herein.
    »Ist Waling da?«, fragte Dolly. Sie war zu Walings Geburtstag nicht eingeladen.
    »Er ist auf der Toilette.« Gieles hatte nicht vor, sie ins Haus zu lassen, aber plötzlich war Super Waling hinter ihm. Er hatte sich eine frische, orangefarbene Trainingshose und ein langärmeliges T-Shirt angezogen, auf dem JOHNNY CASH IS A FRIEND OF MINE stand. Von dem Reis in seinen Haaren war nichts mehr zu sehen.
    »Dolly«, sagte er fröhlich. »So eine Überraschung. Komm herein.«
    »Lieber nicht.« Sie hielt ihre Schultertasche fest an sich gedrückt.
    Gieles zwängte sich an Walings Bauch vorbei und ging ins Wohnzimmer, in dem Meike neugierig herumstreifte. Er ließ Tür und Ohren weit offen.
    Dollys Stimme schallte durch den Flur. »Ich habe alles gelesen. Von dir, deinen Großmüttern, dem Flugzeugunglück 1979. Dem Bestechungsgeld für deine Eltern. Dem Tod deines Vaters. Deiner herzlosen Exfrau. Dem unerfüllten Kinderwunsch. Wort für Wort. Und es ist wirklich hammerhart, was du erlebt hast. Aber trotzdem kein Grund, dich totzufressen. Mein Gott, Waling, wie lange stopfst du dich jetzt schon hemmungslos voll? Fünf, sechs Jahre?«
    Es war einen Moment still. »Ich will dir was sagen, Waling. Ich finde mich nicht damit ab, dass mein Lieblingslehrer wie ein Nilpferd aussieht. Meinen Rockzipfel kann ich dir nicht geben, wie deine Mutter und deine Ex. Aber etwas anderes.«
    Gieles und Meike standen in der Wohnzimmertür und schielten vorsichtig um die Ecke, konnten jedoch nicht sehen, was Dolly ihm reichte.
    »Zum Fenster«, flüsterte Meike. Sie rannten nach vorn undschauten zwischen den Pflanzen hindurch in Richtung Haustür. Dolly holte Fläschchen aus ihrer Handtasche.
    »Was ist das?«, fragte Meike neugierig.
    »Tabletten«, riet Gieles. »Irgendwelche Abnehmpillen.«
    »Wovon hat sie da eben geredet?«
    »Das erzähl ich dir später. Eine lange Geschichte.«
    Dollys Lippen bewegten sich, aber von hier aus war nicht zu hören, was sie sagte. Jetzt schwieg sie und hörte Waling zu. Unbewegt, trotzig, ihre roten Lippen bildeten einen schmalen Strich. Doch allmählich entspannten sich ihre Gesichtsmuskeln, und nach kurzer Zeit brach sogar ein ganz kleines Lächeln durch. Sie blickte zum Himmel hinauf, als wäre dort eine Antwort zu finden, und ging dann ins Haus.
    »Aber nur ganz kurz«, hörten Gieles und Meike sie sagen. »Ich muss die Kinder abholen.«
    Sie kam ins Zimmer, immer noch drückte sie die Tasche an ihre Hüfte.
    »Ich hole etwas zu trinken«, rief Super Waling, die Hände voller Fläschchen.
    Dolly schaute sich im Wohnzimmer um wie in einem Museum, ging langsam an den Bücherregalen entlang und betrachtete die Alpentapete.
    »Ist das so’n Sessel, der sich bewegt?«, fragte Meike und ließ sich auch schon hineinfallen. Sie nahm die Fernbedienung und

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