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Glennkill: Ein Schafskrimmi

Glennkill: Ein Schafskrimmi

Titel: Glennkill: Ein Schafskrimmi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
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Rispen. Maude war ganz versessen auf ein eher fades Kraut – Mauskraut nannten es die Schafe. Sie war davon überzeugt, dass es gut für den Geruchssinn war. In Wirklichkeit war es andersherum: Nur ein Schaf mit hervorragendem Geruchssinn konnte das unscheinbare Mauskraut aus einem Duftteppich appetitlicher Kräuter überhaupt herauswittern. Sir Ritchfield fraß vor allem die verlockend aussehenden, großblättrigen Kräuter, und wenn sich darunter der eine oder andere Sauerampfer befand, störte ihn das nicht weiter. Sara graute es vor Sauerampfer. Lane liebte würzige Bodenkräuter wie Schafsohr und Süßkraut, Cordelia, die sich nicht gerne bückte, fraß zuerst die hohen Hafergräser. Mopple fraß alles ohne Unterschied. Wenn sie nach längerer Abwesenheit wieder auf die andere Weide kamen, ließ sich allein durch einen Blick auf die frischen Fressspuren ziemlich genau sagen, wer wo geweidet hatte.
    Zora genoss das mitternächtliche Grasen im Mondlicht. Es versetzte sie in eine angenehme Stimmung: angeregt und doch philosophisch, meditativ und unternehmungslustig zugleich. Die ideale Stimmung für Geschichten. Zora war das einzige Schaf, das nicht nur gerne Geschichten hörte, sondern sich auch ab und zu selbst welche ausdachte. Keine komplizierten Geschichten, kaum mehr als ein oder zwei Gedanken aneinander gereiht. Es ging auch nicht so sehr um das, was passierte, sondern darum, wie man es betrachtete. Die Geschichten sollten Zora helfen zu verstehen, wie die Welt um das Geschehen herumgaloppierte. Es ging darum, alles möglichst genau mitzubekommen, jeden Aspekt, jedes Detail. Zora war davon überzeugt, dass ihre Geschichten eine gute Übung zur Überwindung des Abgrunds waren. Außerdem machten sie ihr Spaß.
    Zora erzählte sich eine Mopple-Geschichte. Geschichten mit Mopple the Whale gehörten eindeutig zu ihren Lieblingsgeschichten. »Mopple the Whale will die Kräuter des Abgrunds fressen, aber Mopple the Whale traut sich nicht«, dachte Zora. Es ist nicht ganz einfach, sich auf eine Geschichte zu konzentrieren, in der nur klar ist, was nicht passiert. Doch Zora hatte Übung. Mopple stand direkt an den Klippen, nur wenige Meter von Zoras Felsvorsprung. Natürlich tat er so, als würde ihn nur die Aussicht interessieren. Der Wind wehte vom Land, so dass Zora Mopples angenehmen Geruch wittern konnte. Zora konzentrierte sich auf den Wind: ein starker Wind, der sich in Mopples Wolle verfing und dort weiße Flammen zittern ließ, ihn mit sanften Fingern auf die Klippen zuschob und ihn nervös machte. Das Wetter war natürlich schön. Über das Wetter machte sich Zora nie länger Gedanken, denn sie fand jedes Wetter schön. Die Möwen schrien (natürlich, denn die Möwenschreie gehörten zum Abgrund wie Wind und Wasser). Es wurde langsam Abend. George saß auf den Stufen des Schäferwagens und rauchte Pfeife. Unbemerkt von ihm wanderten am Strand zwei Touristen vorbei, ächzend unter riesigen Rucksäcken. Einer von ihnen sah Zora auf ihrem Felsen und zeigte sie dem anderen. Die Touristen freuten sich. Mopple tat so, als fände er Rucksackträger auf einmal interessant und trat noch einen winzigen Schritt auf den Abgrund zu. Der Rest der Herde graste in einiger Entfernung. Dann hörte Othello auf zu grasen. Er beobachtete Mopple, sichtlich amüsiert. »Othello ist schlau«, dachte die Zora in der Geschichte, »vielleicht nicht so klug wie Miss Maple, aber schlau. Othello ist sehr aufmerksam!«
    Das war Zoras Gedanke in der Geschichte. Was Othello dachte, konnte sie nicht entscheiden. Im Hintergrund grasten Lane und Cordelia. Und hinter Lane, weit im Hintergrund stand … Zora traute ihren Augen nicht. Dort, wo die Weide an die Asphaltstraße grenzte, stand der Metzger und roch nach nichts. In seinem Gesicht saß nur ein einziges Auge, mitten auf der Stirn, und dieses Auge war unerbittlich auf Mopple the Whale gerichtet.
    Zora schüttelte den Kopf. Das war nicht die Art von Geschichte, die ein Schaf der Überwindung des Abgrunds näher brachte. Was hatte der Metzger in ihrer kleinen, klaren Geschichte verloren?
    Sie blickte auf und merkte, dass sie gerade zur rechten Zeit wieder aus ihren Gedanken aufgetaucht war. Sie stand am Rande von George’s Place. Höchste Zeit, eine andere Richtung einzuschlagen. Zora betrachtete George’s Place kritisch. Es kam ihr vor, als sei er kleiner geworden.
    Gerade, als sie sich umdrehen wollte, bemerkte sie in der Dunkelheit ein Schaf, das auf der anderen Seite von George’s

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