Glenraven
»Falls Ihr noch irgend etwas benötigt, dann sagt es ihr einfach. Sie wird es beschaffen.«
»Spricht sie Englisch?« fragte Sophie.
Der Portier schaute sie verwirrt an. »Tut das irgend jemand?«
»Genau das hat mein Englischlehrer in der High-School auch immer gesagt«, erwiderte Jay, während sie beobachtete, wie der kleine Mann den Raum verließ. »Jedes Mal, wenn er eine Klassenarbeit korrigiert hat, und seine Antwort auf diese Frage lautete immer ›Nein‹.«
Sophie schaute sich ein wenig um. Ein massives Himmelbett mit handgeschnitzten Verzierungen nahm den meisten Platz ein. Vor den Fenstern hingen üppige, rote Brokatvorhänge, die man zurückgezogen und sorgfältig festgebunden hatte. Sophie bemerkte kleine, hölzerne Ringe unter der Decke, die das Bewegen der Vorhänge erleichtern sollten. An einem derart zugigen, alten Ort wie diesem hier waren die schweren Vorhänge die einzige Garantie dafür, daß man einigermaßen warm schlafen konnte. In einer Ecke stand ein Schreibtisch. Im Gegensatz zum Bett war er sehr schlicht. Ein Stuhl und einige Musikinstrumente befanden sich in der gegenüberliegenden Ecke. Zwei hohe Türen führten auf einen Balkon. Sophie trat hinaus und blickte auf den Garten ein Stockwerk tiefer. Dort wurde gerade ein Feuer vorbereitet.
Sophie starrte gedankenverloren an die Decke. Eine Unmenge Bilder ohne jeden inneren Zusammenhang schwirrte durch ihren Kopf: Karen, wie sie regungslos und blaß auf dem Reitweg lag; der alte Mann an der Grenze, der sie mit besorgtem Blick gemustert hatte; die mutmaßlichen Straßenräuber, denen sie entkommen waren; der schlecht synchronisierte Portier; die gelbäugigen Hundeköpfe, von deren Anblick ihr übel geworden war; der Wandteppich und das Gefühl, als sie Glenraven zum ersten Mal sah, daß sie hier sterben würde.
Die Pferde. Irgend etwas störte sie.
»Hier ist das Badezimmer!« rief Jayjay, und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Jedenfalls so eine Art.«
Sophie wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen. Jayjay hatte eine der Seitentüren geöffnet und war in den angrenzenden Raum gegangen. Sophie lehnte sich durch die geöffnete Tür und seufzte. »So eine Art?«
Jayjay hockte neben der Toilette und war auf der Suche nach einem Mechanismus, der sie in Gang setzte. »Wenigstens ist es nicht im Freien. Nach dem Graben in Inzo und dem Straßenrand hatte ich die Befürchtung, hier gäbe es bestenfalls Nachttöpfe.« Sie suchte die Rohre ab, und mit einem Ausdruck purer Verzweiflung schlug sie mit der flachen Hand auf die Fliesen.
Sophie konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. »Während du dich mit der Mechanik beschäftigst, werde ich mich für ein Weilchen hinlegen. Ich bin müde, und mein Hintern tut weh. Wer auch immer diesen Sattel konstruiert hat, an Frauen hat er dabei bestimmt nicht gedacht.«
Jayjay winkte sie hinaus, und Sophie ließ sich aufs Bett fallen. Nach einer Nacht auf einem Holzfußboden und einem halben Tag im Sattel empfand sie die harte Matratze als äußerst angenehm. Der Raum war für ihre Ansprüche ausreichend luxuriös ausgestattet.
Sophie schloß die Augen. Sie vergaß ihre unmittelbaren Probleme und wandte sich schwerwiegenderen Dingen zu. Sie sah Lorin, wie sie ihr zum ersten Mal begegnet war… Lorin hatte auf der Straße vor Sophies Haus gestanden und einen Hufkratzer in der Hand gehalten, mit dem sie versuchte, einen Stein aus dem linken Vorderhuf ihres Pferdes zu entfernen. Lorin hatte ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Als Sophie den Bürgersteig heruntergekommen war, hatte Lorin hochgesehen und den Stein mit einem letzten Ruck entfernt. Dann hatte sie sich aufgerichtet und ihre Hände an der Jeans abgewischt. Es waren kurze, abgehackte Bewegungen gewesen, die irgendwie merkwürdig gewirkt hatten. »He! Er hat sich einen Stein eingefangen, und ich mußte ihn wieder loswerden«, hatte sie in kühlem, breitem Südstaatenakzent gesagt. Sophie hatte verständnisvoll genickt.
»Dieser Teil der Straße ist nicht sonderlich geeignet für Pferde. Es war noch viel schlimmer, bevor man ihn letzten Sommer ausgebaut hat - Sie würden sich wundern, wieviel Kies noch neben der Straße liegt.«
Small Talk. Sophie wußte nicht, warum sie gesprochen hatte. Eigentlich hatte sie nur ihre Post holen wollen, und ausgerechnet über Pferde wollte sie mit Sicherheit niemals wieder reden; aber Lorin hatte damit angefangen.
Sie hatten geredet. Wirklich nur Small Talk. Das Wetter. Was
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