Glenraven
dem Stein überziehen sollte, damit die Frauen sich aus dem Staub machen konnten. Sie entschied sich dagegen. Im Augenblick brauchten sie unbedingt einen Verbündeten. Sie waren verzweifelt genug, um einem Feind zu vertrauen. Da Jay ebenfalls nichts unternahm, ging Sophie davon aus, daß sie derselben Meinung war.
Matthiall starrte in den dunklen Korridor, durch den Grah verschwunden war. »Grah hat euch angegriffen, nicht wahr?« fragte er, ohne sich umzudrehen.
Jayjay wischte sich weiteres Blut aus dem Gesicht. Sophie bemerkte, daß es aus einer Fleischwunde am Haaransatz kam. »Er wollte uns töten«, erklärte Jay.
Sophie blickte wieder zu dem Fremden. Sie studierte sein Profil. Seine spitzen Ohren machten sie nervös. Die langen Zähne, die jedesmal zu sehen waren, wenn er sprach, machten ihr angst. Zähne, sagte sie sich. Das sind nur Zähne . Katzen und Hunde haben die gleiche Art von Zähnen. Aber Jahre des ungehemmten Fernsehkonsums hatten ihre Spuren bei Sophie hinterlassen. Der Vergleich zwischen Matthialls Zähnen und denen von Werwölfen und Vampiren drängte sich geradezu auf. Sophies Verstand wollte sich einfach nicht beruhigen.
Matthiall sagte: »Ich wußte, daß einer meiner… Mitarbeiter… « Seine Miene verfinsterte sich. »… einer meiner Mitverschwörer… auch für Aidris Akalan arbeitete. Ich dachte immer, ich wüßte, wer es ist.« Matthiall starrte unverwandt in die Dunkelheit des Korridors. »Ich habe nicht geglaubt, daß es Grah sein könnte. Wir waren Freunde… seit unserer Kindheit.« Er wandte sich zu den Frauen um und schüttelte den Kopf. »Er wird bald wieder zurück sein und Bewul, Aidris Akalan und einen Haufen mordlustiger Kin mitbringen. Wenn sie uns hier finden, bekommen sie, was sie wollen.«
»Bist du auf unserer Seite?« fragte Jay.
Matthiall hob eine Augenbraue und sah sie mit einem ironischen Lächeln an. »Die wichtigere Frage ist, seid ihr auf meiner ?« Er zuckte die Schultern. »Das werden wir herausfinden müssen, während wir uns auf den Weg machen. Irgendwie seid ihr für irgend jemanden von Bedeutung. Aber ich habe nicht die Zeit, herauszufinden, für wen… und warum. Und ich wage nicht, euch zurückzulassen. Aidris wird euch töten, sobald sie euch findet, und wenn ihr wirklich potentielle Verbündete seid, dann darf ich das nicht zulassen.«
»Und wenn wir Feinde sind?« fragte Jay.
Matthiall nickte anerkennend - entweder ein freundliches Akzeptieren der Frage oder des Mutes, den sie erforderte. »Dann werdet ihr entweder mich töten oder ich euch. Aber jetzt schlage ich vor, daß wir fliehen… und leben.«
»Genau das hatten wir vor«, erklärte Sophie.
Matthiall blickte zu Sophie und dann zu Jay. Sophie bemerkte erstaunt, wie Jay und Matthiall sich versteiften, als ihre Blicke sich trafen. Zwischen den beiden herrschte eine beinahe körperlich fühlbare Spannung. Für einen Augenblick schienen sie das Atmen zu vergessen. Sophie kam sich plötzlich überflüssig vor. Sie erinnerte sich daran, was Jay von ihrem ›Traum‹ berichtet hatte… aber es war offensichtlich kein Traum gewesen. Es war die Wirklichkeit . Wie war das möglich?
»Wohin gehen wir?« fragte Jay schließlich.
»Ich habe noch einen Verbündeten«, antwortete Matthiall, »jemanden, den Aidris Akalan für tot hält. Ich habe noch einige Waffen für diesen Tag zurückgelegt. Wir werden sie mitnehmen und anschließend zu seinem Versteck aufbrechen.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn das Schicksal uns wohlgesonnen ist, werden wir diese Reise überleben. Allerdings muß ich gestehen, daß ich in letzter Zeit nicht gerade vom Glück verfolgt wurde.«
Die beiden Frauen warfen die Rucksäcke über die Schultern. »Licht aus«, sagte Matthiall. Der Raum gehorchte, und sie standen im Dunklen. »Sagt mir Bescheid, wenn ihr wieder etwas sehen könnt.«
Es dauerte einige Minuten, bis die Frauen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Jetzt«, sagten sie beinahe zugleich.
»Haltet euch dicht hinter mir. Los geht’s!«
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
Matthiall eilte mit Jayjay und Sophie durch die gewundenen Gänge bis zu der Stelle, an der er seinen magischen Kristall versteckt hatte. Mit seiner Hilfe wollte er sowohl den magischen Suchern als auch den verschiedenen Wesen entkommen, die Aidris Akalan ihm auf die Fersen hetzen würde. Während Matthiall die beiden Frauen auf dem schnellsten Weg in die Freiheit führte, betete er zu den Göttern, daß Grah noch keinen Bericht erstattet
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