Glitzerbarbie
mitsingen!«
Die Geisel (erwähnte ich schon, dass ich das bin?) und die Geiselnehmer auf dem Balkon, die komplette Redaktion im Studio 1 , die Hundertschaften von Polizisten auf dem Parkplatz und die in den Bäumen, alle holen Luft, als die Musik beginnt.
Sieht man die Menschen sich quälen
und sieht ihren Schmerz, ihre Tränen,
da fragt man sich immer nur:
Muss das so sein?
Immer nur Scheiden und Weinen
und immer nur Warten und Leiden,
so hier und auch dort ist ein jeder allein.
Schenkt euch immer nur Liebe,
schenkt euch immer Vertrauen,
nichts ist so schön wie die Worte,
die ewigen Worte:
Mein Herz ist nur dein!
Gleich springe ich von diesem Balkon, gleich!
Wir wollen niemals auseinander gehn,
wir wollen immer zueinander stehn,
mag auf der großen Welt auch noch so viel geschehn,
wir wollen niemals auseinander gehn!
Unsre Welt bleibt so schön!
Wir wollen niemals auseinander gehn!
Ich traue meinen Augen nicht. Die Guerillakrieger in den Bäumen geben sich die Hände wie Klammeraffen und schunkeln mit. Sehe ich den Leiter des Einsatzkommandos neben einem Wasserwerfer sich da Tränen aus den Augen wischen? Selbst meine Geiselnehmer befinden sich in einem emotionalen Zwiespalt. Orang-Utan schluchzt leise und sagt dann zu mir, dass er das immer bei seinen Großeltern in Bad Schwisselsheim gehört hätte, und die Oma hätte immer Brote geschmiert und Mandarinen geschält, und eine Stehlampe brannte, und der
Bullerofen sorgte für wohlige Behaglichkeit. Ich sage zu Orang-Utan, dass ich das sehr schön finde und dass ich so was auch erlebt hätte. Erinnerungen an die Kindheit sind doch was Herrliches!
Thomas macht der Gefühlsduselei einen abrupten Abbruch und spielt Ozzy Osbourne, und ich sage, dass mir kalt wäre, und schiebe die anderen, die immer noch von Heidi Brühl gefangen sind, vor mir her wieder in den Raum. In diesem Moment merke ich, dass man die Balkontür von außen mit einem Haken verschließen kann. Im nächsten Moment verschließe ich die Balkontür von außen mit dem Haken, und im übernächsten Moment rufe ich: »Schnell, holt mich hier runter!«, und Thomas im Sender antwortet mit: »Ja, wie denn, Caro, wie denn, was sollen wir denn von hier aus machen?«
Ein geistesgegenwärtiger Feuerwehrmann peilt die Lage, eine Sekunde später schießt eine Feuerwehrleiter wie ein geölter Blitz zu mir herauf, und ich kann im letzten Moment, bevor die Scheiben der Balkontür hinter mir von Kakadu, Weißem Hai oder wem auch immer zerdeppert werden, draufspringen und mich daran festhalten.
Ich bin dann keine Geisel mehr.
Der erste Mensch, den ich sehe, als ich unversehrt unten ankomme, ist Margot. Sie freut sich sichtlich, mich zu sehen, denn sie schreit: »OhmannechtAltekönnenwirjetztnenBrautkleidkuckengehen???«
Ich glaube, ich brauche einen Drink (sagte das nicht immer Sue Ellen Ewing?).
Herr Urban wird unverzüglich die Balkontüren entfernen und Gitter anbringen lassen. Balkone wären sowieso Firlefanz.
Ich sage Jo später, dass ich keine Außenreportagen mehr machen will, und der meint, auf die Idee sei er auch schon gekommen.
Wir hatten übrigens an diesem Tag die höchste Hörerzahl seit Bestehen von easy-Radio. Vom Intendanten bekomme ich als Dankeschön zwei Frotteehandtücher geschenkt. Ich habe das ungute Gefühl, dass er sich wünscht, ich würde sie in Fetzen reißen und mich damit aufhängen.
Ich gehe dann direkt mit Margot »’nen Brautkleid kucken«. Marius weiß noch gar nicht, was passiert ist. Ich will ihn ungern in einer Therapiestunde stören, und außerdem: So sehr wundern würde es ihn gar nicht. Ich spare mir das für heute Abend auf. Mit Margot durch Frankfurt zu laufen ist etwas für Menschen, die sich gern selbst Schaden zufügen. Sie rennt wie ein unartiger Hund immer drei Schritte vor mir her und hechelt dabei.
Hätte ich eine Leine dabei, wäre es auch nicht besser, denn dann würde sie mich einfach hinter sich herziehen.
Schon in Geschäft eins eskaliert die Situation, denn Margot findet alles grottig oder unterirdisch oder für die Füße oder was für Weiber, die Weiber sein wollen. Hä?
In einem Jagdoutfitgeschäft findet sie schließlich das Passende.
Knickerbocker, eine grüne Hemdbluse, einen Janker, Bergsteigerstiefel, dicke Wollstrümpfe und einen Hut mit Gamsbart. Ich schlage aus Witz vor, noch ein Gewehr zu kaufen, ernte aber einen bösen Blick des Verkäufers, der meint, so mir nichts, dir nichts ginge das nicht, da bräuchte man einen
Weitere Kostenlose Bücher