Global Warning
vorwärts.«
Weder stimmte er ihr zu, noch widersprach er ihr - er stand einfach nur da, völlig reglos, bis auf seine Hände in den dicken Handschuhen, die sich zur Faust ballten und wieder öffneten.
Der Moment war nicht so feierlich, wie Jenna sich das vorgestellt hatte. Sie hätte allein hier stehen sollen, sie hätte an all die Jahre denken sollen, in denen sie draußen unter den Sternen Alaskas geschlafen, in denen sie die Einsamkeit und die Stille genossen hatte. In einer Welt mit sieben Milliarden Menschen war es fast surreal, für die Natur einzutreten, anstatt den anonymen Massen anzugehören, die sie zerstörten.
Sie dachte an Erin Neal, was sie immer noch viel zu oft tat. Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, was sie jetzt vorhatte?
»Warte hier!«, sagte sie noch einmal, während sie das Seil, das sie miteinander verband, aushakte und so schnell losmarschierte, dass Jonas mit Sicherheit nicht nachkommen konnte. Als sie schließlich einen Blick zurückwarf, sah sie nichts mehr. Nur die Dunkelheit war noch da.
Es dauerte gut fünfzehn Minuten, bis Jenna die steile Schneebank erreicht hatte, von der das Bohrgelände umgeben war, und weitere zwei, bis sie hinaufgeklettert war. Sie legte sich auf den Bauch und spürte, wie ihr die Kälte, die bis jetzt nur ihr Gesicht und ihre Hände hatte taub
werden lassen, in die Brust kroch und ihre Zähne zum Klappern brachte. Der Schal über ihrem Mund lenkte ihren Atem nach oben und ließ ihre Schutzbrille beschlagen; daher nahm sie ihn ab, und die gefrorene Luft strömte direkt in ihre Lungen.
Auf dem Gelände unter ihr war der Schnee weggeräumt worden, damit nicht nur für den Bohrturm Platz war, sondern auch für die Männer und die Maschinen, die für seinen Betrieb sorgten. Überall standen Raupenfahrzeuge, Geräte und Stapel mit Vorräten herum, außerdem noch ein paar beheizte Wohnwagen, in denen um diese Zeit die Bohrarbeiter schliefen. Es war zwei Uhr morgens, trotzdem erhellten starke Scheinwerfer jede Ecke des Geländes und vernichteten jeden Schatten, sodass es aussah wie ein überbelichtetes Foto. Sie blieb reglos liegen, nur ihre Augen bewegten sich, als sie nach dem Rumpfteam der Nachtschicht suchte, das hier irgendwo sein musste.
Nichts.
Sie wartete weiter, während ihr immer kälter wurde. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie nur noch fünf Minuten hatte, bevor ihr Körper allmählich seine Bewegungsfähigkeit verlieren würde.
»Das ist nicht gerade der richtige Zeitpunkt, um in sich zu gehen«, sagte sie laut. Sie hatte ihre Entscheidung schon vor langer Zeit getroffen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Jenna schob sich über den Rand der Schneebank und rutschte auf dem Bauch nach unten, wobei sie darauf vertraute, dass ihre weiße Kleidung als Tarnung genügte. Die lauten Rufe und das Geräusch rennender Füße, mit denen sie fast schon gerechnet hatte, kamen nicht. Als sie unten
war, rannte sie tief gebückt zu einer Pyramide aufgestapelter, rostiger Fässer.
Der Wind wurde von den hohen Schneewällen um das Gelände abgehalten, doch er war über dem Kreischen der Maschinen immer noch zu hören; heulend fegte er durch den oberen Teil des Bohrturms, erbost darüber, dass er von so etwas Unbedeutendem und Kurzlebigem wie Menschen ausgesperrt wurde.
Sie kroch weiter, während das Adrenalin in ihrem Blut Kälte, Zweifel und Angst unterdrückte. Nicht einmal eine Minute später spürte sie die erste Stufe einer Metalltreppe unter ihrem Fuß. Die Eisschicht auf den Stufen erschwerte den Weg nach oben, dämpfte aber gleichzeitig das Geräusch ihrer Stiefel auf dem Stahl.
Am oberen Ende der Treppe fand sie, wonach sie gesucht hatte: Mehrere Fässer, die aussahen, als wären sie mit trübem Wasser gefüllt. In Wahrheit enthielten sie eine spezielle Flüssigkeit, die als Schmiermittel auf die Bohrkrone gepumpt wurde und verhinderte, dass Dreck und Steine aus dem Bohrloch nach oben flossen.
Jenna ließ sich auf die Knie fallen, streifte ihren Rucksack ab und holte zwei große Plastiktüten heraus. Als sie wieder aufstand, stellte sie fest, dass sie auf die Fässer starrte und keinen Finger rühren konnte.
Niemand wird zu Schaden kommen, sagte sie sich zum tausendsten Mal. Die Ölfirmen würden aufheulen, sich lautstark beschweren und die Regierung schließlich dazu bringen, die Milliardengewinne, die sie Monat für Monat erzielten, durch weitere Subventionen aufzustocken. Die amerikanische Bevölkerung würde sich kurz, aber heftig selbst
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