Glockengeläut
ihre Schultern, dabei wurde ihm bewußt, daß auch er wie Espenlaub zitterte. »Quatsch«, tadelte er sie liebevoll. »Es ist ja fast nichts passiert. Laß uns weitergehen.«
Sie jedoch blieb einfach stehen, während ihr Körper in seinem Arm wie von Krämpfen geschüttelt wurde.
Eine lange Pause trat ein. Dann sagte sie: »Ich mag diesen Ort nicht.«
Es sah ihr überhaupt nicht ähnlich, so etwas zu sagen. So etwas hatte er noch nie von ihr gehört.
Doch nahm er sie wie immer völlig ernst. »Was ist los?« fragte er. »Ich bin wirklich in Ordnung, hörst du? Wirklich! Hier, faß mich an, überzeug’ dich selbst.«
Und in diesem Moment begann der Hund zu bellen - wenn man diesen Laut überhaupt Bellen nennen konnte. Es war eigentlich eher ein stetes, grollendes Geräusch zwischen Knurren und Brüllen, dazu ein Knirschen von Zähnen und Kiefer, doch zweifellos das Bellen eines Hundes, was den Laut um so entsetzlicher erscheinen ließ. Ganz offensichtlich kam es von dem Grundstück hinter der Mauer.
»Hilary«, drängte Mary, »laß uns weglaufen.«
Aber ihre ungewöhnliche Furcht spornte Hilarys Mut zum äußersten an.
»Ich weiß nicht«, versuchte er sie zu beruhigen. »Noch nicht.«
»Was meinst du damit?« fragte sie.
»Ich glaube«, antwortete er, während er sich eine schmerzende Stelle an seinem Knie rieb, »daß der Hund entweder angekettet oder hinter dieser Mauer eingesperrt ist, und dann haben wir nichts zu befürchten. Oder er läuft frei ’rum, dann hat es sowieso keinen Sinn, wenn wir wegrennen.«
Seine Gedanken entsprachen in etwa der Denkweise, die ihm der tägliche Umgang mit Mary nahegebracht hatte, und sie ging nun auch darauf ein.
»Vielleicht sollten wir uns nach einigen dicken Steinen umsehen?« schlug sie vor.
»Ja«, stimmte er ihr zu, »obwohl ich nicht glaube, daß das nötig sein wird; der Hund ist bestimmt eingesperrt. Sonst wäre er doch längst schon ’rausgekommen.«
»Ich schaue mich mal nach Steinen um«, sagte Mary.
Steine ruhen massenweise in der ausgelaugten Erde des südlichen Surrey, außerdem viele alte Ziegel und Bauschutt. Nach zwei oder drei Minuten hatte Mary einen kleinen Haufen zusammengetragen. Mittlerweile war Hilary dem Pfad ein wenig weiter gefolgt. Er stand dort und hörte dem lärmenden Hund beinahe gelassen zu.
Mary folgte ihm, sie benutzte ihren Rock als Tragetuch für vier dicke Steine, die sie mit den Händen allein nicht zu tragen vermochte.
»Wir werden sie nicht brauchen«, sagte Hilary zuversichtlich. »Und falls doch, liegen sie ja sowieso überall herum.«
Also ließ Mary die Steine wieder fallen, wobei sie sich vorbeugte, damit sie nicht ihre Zehen trafen. Möglicherweise veranlaßte das dumpfe Geräusch des Aufpralls den Hund, noch wütender als zuvor zu bellen.
»Vielleicht bewacht er einen vergrabenen Schatz?« schlug Mary zaghaft vor.
»Oder ein Elfenreich, das Sterbliche nicht betreten dürfen«, sagte Hilary.
Wenn sie zusammen waren, redeten sie meist über solche Dinge. Sie hatten sogar einmal eine Karte des Elfenlands gezeichnet; das Riesenland lag gleich nebenan.
»Vielleicht hat er mehrere Köpfe«, fuhr Mary fort.
»Komm, sehen wir nach«, sagte Hilary.
»Aber leise«, erwiderte Mary, ohne weitere Bedenken vorzubringen.
Er ergriff ihre Hand.
»Es muß ein Tor geben«, bemerkte sie, nachdem sie ein Stückchen weitergegangen waren; das knurrende Bellen hielt an.
»Dann gehen wir mal davon aus, daß er angebunden ist«, gab er zur Antwort. Und fügte sofort hinzu: »Natürlich ist er angebunden. Sonst wäre er doch schon längst ’rausgekommen.«
»Das hast du schon einmal gesagt«, erinnerte ihn Mary. »Aber vielleicht gibt es gar kein Tor. Es gibt doch nicht immer ein Tor.«
Aber es gab ein Tor, ein Tor mit zwei Flügeln, hoch, gußeisern, verschnörkelt, vom Rost zerfressen und mit einem schweren Vorhängeschloß. Durch die Eisenstäbe konnten Hilary und Mary ein großes, offenbar leerstehendes Haus sehen, von dessen Fenstern zahlreiche ohne Glas waren und dessen Außenanstrich nur noch in vereinzelten rosa, grünen und blauen Flecken überlebt hatte. Die Luftverschmutzung hatte das ihre dazu beigetragen, den von Wind und Wetter eingeleiteten Verfallsprozeß voranzutreiben. Das Gebäude verfügte über reichlich Zierzinnen und massenweise Spitzbogen, ganz nach dem Geschmack der Neogotik, wenngleich man es schwerlich einem genaueren Zeitraum als etwa den letzten hundert Jahren hätte zuordnen können. Einige der
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