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Glockengeläut

Glockengeläut

Titel: Glockengeläut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Aickman
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war tot. Es gelang ihm nicht, sich an sie zu erinnern, auch wenn er es mit aller Kraft versuchte - was er von Zeit zu Zeit tat. Da sein Vater, der in bezug auf Frauen ebenso unumstößliche Ansichten wie hinsichtlich der meisten anderen Dinge des Lebens hegte, nicht wieder geheiratet hatte, wuchs Hilary in ausschließlich männlicher Gesellschaft auf. Diese Gesellschaft schien im wesentlichen aus Roger und Gilbert zu bestehen, die sich unablässig rauften und aufeinander einprügelten, wobei von Zeit zu Zeit auch ein Hieb für ihren kleinen Bruder abfiel. Hilary neigte aufgrund dieser familiären Konstellationen dazu, seine Meinungen und Geheimnisse für sich zu behalten, auch wenn er alles andere als ein Waschlappen war. Von kleinen Jungen werden vor allem dann selten Fragen gestellt, wenn keine Frau in der Nähe ist, die sie beantworten könnte, zumindest keine Fragen zu wirklich wichtigen Dingen.
    Die Familie lebte in einem abgelegenen Teil von Surrey. Es gab dort eine sehr angesehene und recht teure Vorbereitungsschule, Briarside, auf welche die meisten Sprößlinge aus der Umgegend im frühestmöglichen Alter geschickt wurden. Natürlich mußte auch Hilary, wie zuvor schon seine beiden älteren Brüder, diese Schule besuchen, damit er die Grundzüge des Lesens, Schreibens und Rechnens lernte, darüber hinaus so unverzichtbare Dinge, wie einen Ball aus der Luft aufzufangen; danach würde man ihn auf die vornehme Primarschule Gorselands schicken, bevor er seinen Bildungsweg in den Lehranstalten von Cheltenham oder Wellington fortsetzte. Einige Familienmitglieder gingen nach Cheltenham, andere nach Wellington: eine merkwürdige Tradition, der Außenstehende wenig Sinn abzugewinnen vermochten.
    Wie es sich bei dieser Art von Einrichtungen nur schwerlich vermeiden läßt, war Briarside eine gemischte Schule (wenngleich es absurd gewesen wäre, dieses Erziehungssystem als ›Koedukation‹ zu bezeichnen), und hier schloß Hilary eine innige und bemerkenswerte Freundschaft mit einem Mädchen, das zwei Jahre älter war als er und Mary Rossiter hieß. Die kleinen Mädchen auf der Schule waren die ersten weiblichen Wesen, denen Hilary begegnete, denn selbst in seiner weiteren Verwandtschaft gab es nur kleine Cousins, wie das in manchen Familien der Zufall so will.
    Mary hatte dunkles, krauses Haar, das nach allen Seiten von ihrem Kopf abstand, ein recht flaches Gesicht und schon damals wunderschöne, große, dunkle Augen, die nicht nur funkelten, sondern, wenn sie sprach - was sie, wenn man sie ließ, beinahe ohne Unterlaß tat - auf verblüffende Weise in den Augenhöhlen herumsprangen und -rollten. Meist trug sie ein Hemd oder einen Pullover und kurze Hosen, was bei den jungen Mädchen zu jener Zeit modern wurde, und sprühte nur so vor Lebenslust und Extrovertiertheit; manchmal jedoch, etwa anläßlich einer Schulfeier, erschien sie, vermutlich mehr der Eltern als der Knirpse wegen, in einem atemberaubenden Seidenkleidchen, womit sie alle anderen ausstach. Und das um so mehr, als das Kleid nicht ganz zu ihr zu passen schien und eher wie ein Kostüm für die Bühne wirkte. Mary Rossiter legte vielversprechende Anzeichen künftiger Führungsqualitäten an den Tag (manche Mütter nannten sie daher bereits ›herrisch‹), ihre schönen Augen jedoch gehörten Hilary allein. Und nicht nur ihre Augen, sondern auch ihre Lippen und Hände und alle zärtlichen Worte.
    Von den ersten Tagen seiner Schulzeit an saß Hilary während der Unterrichtsstunden (wenn man sie so nennen wollte) neben Mary, er war ihr unzertrennlicher Begleiter in den Spielräumen und im Garten. Die Schulleitung zog es eigentlich vor, wenn die Jungen mit den Jungen und die Mädchen mit den Mädchen spielten, und normalerweise mußten die Erzieher die Kinder zu dieser frühen Geschlechtertrennung auch gar nicht erst ermahnen. Im Falle von Hilary und Mary jedoch zeigte sich, daß Mary auch schon in jungen Jahren ›unwiderstehlich‹ war, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Sie schmeichelte, sie lächelte, sie trotzte. Zudem war ihr Vater sehr reich und die Tatsache, daß die Eltern ihr Töchterchen vergötterten, nur zu offensichtlich.
    Während der Woche gab es lange Stunden, welche die Schule nicht mit Beschlag belegte. Die meisten Eltern warteten vor dem Schultor und holten ihre Sprößlinge in jenen typischen kleinen Zweitwagen ab, welche meist die Ehefrauen fuhren. Mary jedoch ließ man, vielleicht aus Fahrlässigkeit, ihre Freiheit, einfach

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