Glockengeläut
wissen, daß das eben so und nicht anders sei.
Hilary hatte noch nie mit Sandy Stainer gesprochen und verspürte auch nicht das geringste Bedürfnis dazu. Er hätte die Angelegenheit nicht in dieser Umgebung zur Sprache bringen wollen. Darüber hinaus wußte er nur zu genau, daß er nichts erfahren, dafür aber aufgezogen und gequält werden würde. Verblüffenderweise war es gelungen, Sandy Stainers Lippen zu versiegeln; er konnte sich zudem eines reinen Gewissens und sozialer Anerkennung sicher sein, wenn er lästige Fragesteller, besonders solche, die bekanntermaßen so verwundbar waren wie Hilary, in einer stillen Ecke durch Armdrehen oder sonstige Quälereien zum Schweigen bringen würde. Mary hatte Hilary so viel bedeutet, daß er in der Schule keine weiteren engen Freunde hatte, vermutlich überhaupt niemanden. Vielleicht war Hilary einer jener Männer, für die es im Leben nur eine Frau gibt.
Natürlich hatte er auch außerhalb der Schule keine kleinen Freunde; es hatte sich nie jemand für ihn interessiert. Und selbstverständlich war Marys Tod auch kein Thema, über das er mit seinem Vater sprechen konnte. Was könnte sein Vater ihm schon darüber verraten, da doch alles so überaus geheimnisvoll war - und zudem so erfolgreich vor aller Augen verborgen?
Nach ein oder zwei Tagen lag Hilary wieder im Bett und fehlte erneut in der Schule. Doktor Morgan-Vaughan kam dieses Mal nicht umhin zu vermuten, daß die Krankheit ein gerüttelt Maß an ›Psychosomatischem‹ enthalten mußte; dies jedoch war ein Zweig der Medizin, der ihm immer als unwirklich, als therapeutische Sackgasse erschien. Außer für jene, die sich entschlossen hatten, dieses Gebiet finanziell auszubeuten. Er hingegen zog es vor, sichtbare körperliche Störungen durch entsprechende Heilmittel zu kurieren. In diesem Fall allerdings erwog er ernsthaft, abermals Doktor Oughtred hinzuzuziehen, der während Hilarys erstem Krankheitsstadium wertvolle Hilfe geleistet hatte.
»Lesen Sie die Lokalzeitung, Mrs. Parker?« fragte Hilary, dessen Gesicht weißer war als die Laken, zwischen denen er lag.
»Hab’ keine Zeit dazu«, gab Mrs. Parker in gewollt unverbindlicher Art zur Antwort. »Aber wir haben sie abonniert. Mr. Parker ist der Meinung, daß sich das so gehört.«
»Warum meint er das?«
»Du willst doch sicher auch wissen, was in der Welt um dich herum so vorgeht, oder?«
»Sicher«, sagte Hilary.
»Nicht, daß Mr. Parker irgend etwas besonders intensiv lesen würde. Warum sollte er auch, wo er doch das Radio hat? Der Advertiser türmt sich in Stapeln, bis die Leute vom Krankenhaus sie abholen kommen.«
»Was machen sie denn im Krankenhaus damit?«
»Sie stampfen sie ein, vermute ich. Man muß wohltätige Zwecke unterstützen, so gut man kann, nicht wahr?«
»Bringen Sie mir all die Lokalzeitungen aus den Stapeln, Mrs. Parker! Ich bin schließlich auch krank. Es ist wie mit dem Krankenhaus.«
»Du kannst sie ja doch nicht lesen«, sagte Mrs. Parker, wie immer sorgfältig darum bemüht, nicht zu freundlich zu sein, sich nicht zu weit einzulassen.
» Doch «, widersprach Hilary.
»Wie das? Du kannst doch nicht lesen!«
»Doch«, sagte Hilary. »Ich kann alles lesen. Jedenfalls fast alles. Bringen Sie mir die Zeitungen, Mrs. Parker!«
Sie zeigte sich nicht erstaunt darüber, daß es ihn nach einem so trockenen Lesestoff, der sogar sie langweilte, verlangte; auch schien sie nicht zu argwöhnen, daß es mit seiner Bitte irgend etwas Bestimmtes auf sich haben könnte. Ihr fiel keine weitere Ausrede mehr ein, und da sie jedes während ihrer Arbeit gesprochene Wort genau abzuwägen pflegte, ging sie ohne noch etwas zu sagen aus dem Krankenzimmer.
Doch drei Tage später hatte ihm Eileen etwas zu sagen, als sie ihm sein reichlich phantasieloses Mittagessen und seine tägliche Pillenration brachte.
»Du bist vielleicht altmodisch«, bemerkte Eileen. »Das denkt jedenfalls Mrs. Parker.«
»Was meinst du?« sagte Hilary mürrisch, denn er mochte Eileen nicht.
»Nach dem Advertiser zu fragen, wo du nicht mal richtig lesen kannst!«
»Ich kann lesen«, stellte Hilary fest.
»Ich weiß mehr als Mrs. Parker«, fuhr Eileen fort. »Es geht um dieses kleine Mädchen, hab’ ich recht? Mary Rossiter, dein kleiner Schatz.«
Hilary gab keine Antwort.
»Ich hab’ euch zusammen gesehen. Ich weiß Bescheid. Nicht daß ich Mrs. Parker davon erzählt hätte.«
»Hast du nicht?«
»Nein. Warum hätte ich das tun sollen?«
Hilary
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