Glockengeläut
Kopf war leicht zur Seite gesunken, aber ihr Mund geschlossen und ihr Körper noch nicht so sehr erschlafft, daß es nicht mehr graziös gewirkt hätte; sie bot einen wunderschönen Anblick - fast ein wenig unirdisch, dachte Gerald, wie ein totes Mädchen auf einem frühen Bild von Millais.
Diese Schönheit schien auch Kommandant Shotcroft in Bann geschlagen zu haben, er stand schweigend und reglos hinter ihr und blickte auf sie hinunter, sein trauriges Gesicht wie verklärt. Gerald fiel auf, daß ein Segment des pseudo-elisabethanischen Wandschirms zurückgeklappt war und den Blick auf einen kleinen, mit Kretonne bezogenen Stuhl freigegeben hatte, auf dessen Sitzfläche, mit dem Einband nach oben, ein aufgeschlagenes Buch lag.
»Möchten Sie sich nicht zu uns setzen?« forderte Gerald den Kommandanten kühn auf. Etwas in den Zügen des kleinen Mannes sagte ihm, er sei diesmal sicher vor dessen Spott und Hohn. »Darf ich Ihnen einen Drink holen?«
Der Kommandant wandte sich nicht um, und einen Moment lang schien er zu einer Erwiderung unfähig. Dann antwortete er mit leiser Stimme: »Aber nur für einen kurzen Augenblick.«
»Gut«, erwiderte Gerald. »Setzen Sie sich. Und Sie bitte auch, Mrs. Pascoe.« Mrs. Pascoe tupfte in ihrem Gesicht herum. Gerald wandte sich an den Kommandanten. »Was soll es denn sein?«
»Ich möchte nichts trinken«, murmelte der Kommandant mit derselben leisen Stimme wie zuvor. Es kam Gerald in den Sinn, daß Shotcroft gehen werde, sobald Phrynne erwachte.
»Und wie steht es mit Ihnen?« Gerald sah Mrs. Pascoe an und hoffte inständig, sie werde ablehnen.
»Nein, danke.« Sie warf einen schnellen Blick auf den Kommandanten. Augenscheinlich hatte sie nicht erwartet, ihn hier anzutreffen.
Da Phrynne schlief, ließ auch Gerald sich nieder. Er nippte an seinem Cognac. Es war unmöglich, der Situation mit einem Trinkspruch ein wenig gesellschaftlichen Schliff zu verleihen.
Die Ereignisse in der Bar hatten ihn vorübergehend die Glocken vergessen lassen. Nun, da sie alle schweigend um die schlafende Phrynne saßen, erfaßte ihn die Klangflut erneut mit voller Macht.
»Sie dürfen nicht denken«, setzte Mrs. Pascoe an, »daß er immer so ist.« Sie sprachen alle mit gedämpfter Stimme und schienen ihre Gründe dafür zu haben. Der Kommandant war wieder in seine schwermütige Betrachtung von Phrynnes Schönheit versunken.
»Natürlich nicht.« Obwohl es schwer war, das zu glauben.
»Wenn man im Schankgeschäft tätig ist, liegt die Versuchung immer sehr nahe.«
»Es muß sehr schwer sein.«
»Wir hätten niemals hierher kommen sollen. Wir waren glücklich in South Norwood.«
»Während der Saison laufen die Geschäfte sicher gut.«
»Zwei Monate«, entgegnete Mrs. Pascoe bitter, aber immer noch mit verhaltener Stimme. »Zweieinhalb höchstens. Die Leute, die während der Saison kommen, haben keine Ahnung, was danach abläuft.«
»Weshalb haben Sie South Norwood verlassen?«
»Dons Magen. Der Arzt meinte, die Seeluft würde ihm gut tun.«
»Wo wir gerade davon sprechen. Ist das Meer nicht viel zu weit weg? Wir haben vor dem Abendessen noch einen Spaziergang an den Strand gemacht, konnten es aber nirgends entdecken.«
Auf der anderen Seite des Kamins wandte der Kommandant seine Augen von Phrynne und blickte Gerald an.
»Keine Ahnung«, sagte Mrs. Pascoe. »Ich habe das Jahr über sowieso keine Zeit, mich um das Meer zu kümmern.«
Dies war eine durch und durch konventionelle Antwort, doch irgendwie spürte Gerald, daß sie nicht die ganze Wahrheit enthielt. Er bemerkte, daß Mrs. Pascoe dem Kommandanten einen unsicheren Blick zuwarf, der jetzt weder Phrynne noch Gerald ansah, sondern seine Aufmerksamkeit ganz den aufzuckenden und wieder in sich zusammenbrechenden Feuerzungen zugewandt hatte.
»Nun muß ich mich wieder an die Arbeit machen«, fuhr Mrs. Pascoe fort. »Ich wollte wirklich nur eine Minute bleiben.« Sie sah Gerald ins Gesicht. »Danke«, sagte sie und erhob sich.
»Bitte bleiben Sie doch noch ein wenig«, nötigte Gerald sie. »Warten Sie, bis meine Frau aufwacht.« Während er sprach, hatte Phrynne sich kaum merklich geregt.
»Das geht leider nicht«, sagte Mrs. Pascoe, ihre Lippen zu einem Lächeln gekräuselt. Gerald entging nicht, daß sie den Kommandanten die ganze Zeit über unter halbgeschlossenen Lidern hinweg musterte, und er erkannte, daß sie geblieben wäre, wäre er nicht dagewesen.
So aber ging sie. »Ich werde Ihnen wohl später noch Gute Nacht
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