Gloriana
aufgegangen, was geschehen war. »Ein Mord!« Ihre Stimme war laut und unkontrolliert, und Una zuckte zusammen. »Ich bitte Euch, Lady Lyst …!«
Lady Lyst senkte den Kopf und schlug die Hände vors Ge
sicht. Ihre Schultern zuckten.
»Sie ist müde«, sagte Wheldrake.
»Meister Wheldrake, Ihr und Lady Lyst wart die einzigen, denen ich meinte vertrauen zu können«, sagte die Gräfin. »Es war wichtig für mich, den Leichnam zu entfernen. Ich dachte kaum weiter darüber nach. Vielleicht handelte ich voreilig …« »Ihr handeltet klug«, sagte Wheldrake. »Der Hof hatte sich eben erst erholt. Dies würde das Leben für alle unerträglich machen. Solange Ihr sicher seid, daß Lady Marys Mörder nicht auch der Mörder dieses armen Kerls war …«
»Ich habe keine Gewißheit.« Die Gräfin von Scaith schaute zu der kleinen schwarz-weißen Katze auf dem Bett, die ihre Wunde leckte. »Aber ich versichere Euch, Meister Wheldrake, ich werde versuchen, die Wahrheit aufzudecken.«
»Wenigstens sollte Lord Rhoone verständigt werden«, sagte Lady Lyst. »Oder Montfallcon, nicht?«
»Vielleicht. Ich muß die Implikationen durchdenken.«
»Ihr bewahrt Stillschweigen, um die Königin zu schützen?« fragte Lady Lyst und stand vom Bett auf. »Ist es das, Una?« »Ich denke, das ist für mich ein wichtiges Motiv.« »Ein würdiges«, pflichtete Wheldrake ihr bei. »Freilich«, sagte Lady Lyst ein wenig zweifelnd.
»Ihr denkt, Stillschweigen führt zu Mißtrauen. Und ich könn
te die Dinge dadurch noch schlimmer machen?« fragte die
Gräfin von Scaith.
»Ich bin zu betrunken, um zu denken.«
»Ich respektiere Eure Logik.«
»Ich habe keine Logik. Meine Logik läßt mich täglich im Stich. Sie hat nie geholfen …« Lady Lyst ging zur Tür. »Wheldrake?«
»Ich komme.« Ein mitfühlendes Nicken zur Gräfin von Scaith, und Wheldrake folgte seiner Vertrauten.
Als sie gegangen waren, blickte Una unwillkürlich wieder zur Entlüftungsöffnung hinauf. Es schien ihr, daß noch immer Blut heraussickerte und die Wand herabrann, als ob hundert Leichen dahinter lägen. Bisher hatte sie niemals die Möglichkeit erwogen, daß Lady Marys Mörder in den Tiefen des Palastes hausen mochte – ja daß er vielleicht Tallow selbst war. Doch es war die wahrscheinlichste Erklärung. Sie beschloß, Nachforschungen anzustellen, vielleicht Lord Rhoone ins Vertrauen zu ziehen und mit einer Abteilung ausgesuchter Wachsoldaten das gesamte System der Gänge und verlassenen Räume zu durchkämmen. Es war sogar möglich, daß in den alten Gängen, Korridoren und Räumen eine Art Krieg ausgefochten wurde, daß rivalisierende Gruppen oder Stämme um die Vorherrschaft über jene dunklen Labyrinthe kämpften, jene feuchten, modernden Räume, Säle und Grotten. Nach ihrem Erlebnis mit der Königin kam die Vorstellung ihr durchaus vernünftig vor.
Den Rest der Nacht verbrachte sie mit der Pflege und Fütterung der Katze, und häufig starrte sie zu der ominösen Öffnung hinter dem Holzgitter auf, aber von dort kamen keine Geräusche mehr. Als es hell wurde, reinigte sie den Teppich vom Blut, so gut sie konnte, und bündelte die beschmutzten Laken. Eine Menge Blut war auch an dem Wandteppich, den Tallow herabgeglitten war. Sie wusch und rieb es mit Wasser heraus. Wenn Elizabeth Moffett etwas bemerkte, wollte Una sie zum Schweigen verpflichten und ein Geschichte von Kavalieren improvisieren, die hier gefochten hätten – eine Erzählung von der Art, wie Elizabeth sie gern glauben würde.
Dann kleidete sie sich an und verließ wieder die Wohnung, um Lord Rhoone aufzusuchen, den einzuweihen sie beschlossen hatte.
Die Tür zu Rhoones Wohnung stand offen, als sie anlangte. Zu ihrer Überraschung vernahm sie den Lärm aufgeregten Durcheinanders, überlagert von Dr. Dees klarer Stimme und Lord Rhoones tiefem Dröhnen. Eine Kammerzofe kam. »Milady?« Sie weinte. »Was gibt es? Ich muß Lord Rhoone sprechen.« »Lady Rhoone! Und die Kinder!« Una wurde schwach vor Entsetzen. »Was? Tot?«
Das Mädchen führte sie ins Speisezimmer. Dort, am Boden ausgestreckt, lagen die untersetzte, rotwangige Lady Rhoone und ihre Kinder, das Mädchen und der Junge, vierzehn und dreizehn Jahre alt, die Freude ihrer Eltern.
Dr. Dee kniete neben dem Mädchen und lauschte nach dem Herzschlag, während Rhoone, vor Schmerz und Angst außer sich, über ihn gebeugt stand. »Die Nieren«, stammelte er. »Es müssen die Nieren gewesen sein.«
»Sie sind mit größter Bestimmtheit
Weitere Kostenlose Bücher