Glück, ich sehe dich anders
vorbereitet. Sie bekam ein weißes Hemdchen angezogen, wurde auf eine Trage gelegt, angeschnallt und in einen Krankentransporter geschoben. Als der Motor des Wagens ansprang, zog sie ihren Arm unter dem Anschnallgurt hervor, winkte mir zu und rief: »Bo, Bo, Bo!« Sie dachte, es wäre der Kindergartenbus. Ich fuhr mit zum Operationszentrum. Louise bekam etwas zur Beruhigung und schlief schon vor der Narkose ein. Sie überstand den Eingriff gut. Nur der Beatmungsschlauch, der in den Hals eingeführt worden war, reizte ihre Schleimhäute so sehr, dass sie wieder starke Pseudokrupp-Anfälle bekam.
Einen Tag nach der OP war Louise in einem den Umständen entsprechenden guten Zustand, sodass die Intensiv-Chemo ohne Verzögerung beginnen konnte. Über den Port lief der Inhalt aus den Infusionsbeuteln in Louises Vene. Die Medikamente in den Beuteln sahen aus wie Rattengift, mal knallrot, mal knallgelb. Louise reagierte auf diese Mittel mit heftigen Nebenwirkungen. Der Mund und die Nase waren schon bald lädiert. Die Scheide und der Po waren wund und blutig. Sie musste mehrmals Bluttransfusionen bekommen, weil ihre Blutwerte teilweise sehr schlecht waren.
Louise hatte anfangs große Schwierigkeiten mit dem Krankenhausalltag und kam mit der ungewohnten Situation nicht zurecht. Es brauchte nur eine Schwester das Zimmer zu betreten, um nach ihr oder anderen Kindern zu sehen, dann schmiss sich Louise mit dem Kopf in die Kissen, ballte ihre Hände zu Fäusten und schlug mit ihnen auf das Bett ein. Sie schrie und knirschte heftig mit den Zähnen. Sie wollte einfach in Ruhe gelassen werden.
Nach sehr anstrengenden zwei Wochen saß sie nachts nur noch zitternd im Bett und wimmerte. Sie war wie weggetreten, in einem Dämmerzustand. Was war nur aus unserem lieben, aufgeweckten, fröhlichen Mädchen geworden? Louise war nicht wiederzuerkennen. Und ich konnte sie nicht einmal trösten. Ich musste selbst mit all dem fertig werden und sollte ihr zugleich Trost und gute Laune vermitteln? Ich konnte nur für sie da sein, ihren Kopf streicheln, die Händchen halten und ihr etwas vorsingen und gut zureden. Ich hoffte so sehr, dass sie mir nicht übel nahm, dass ich zu mehr keine Kraft fand. Ich hatte Angst, sie würde mir die Schuld an allem geben. Sie schaute mich an, als würde sie denken: Mama, warum lässt du zu, dass die das mit mir machen und mir so wehtun?
Louise sah erschreckend aus. Sie hatte ein Medikament bekommen, das als Nebenwirkung vor allem die Mundschleimhaut sehr stark reizte. Louise konnte kaum einen Ton von sich geben, weil ihr Mund so sehr angeschwollen war. Sie vegetierte förmlich dahin in ihrem Gitterbett. Wegen der Stäbe konnte ich mich nicht einmal zu ihr legen und ganz nah bei ihr sein.
Eines Abend, ich hatte Louise gewaschen, sie frisch für die Nacht umgezogen und ihre blutigen Stellen, die bereits sehr verkrustet waren, am Mund und an der Nase eingecremt, bemerkte ich plötzlich einen großen Blutfleck auf Louises Kopfkissen. Sie hatte sich eine Kruste am Mund abgekratzt. Die Krankenschwester versuchte, die Blutung zu stillen, aber das Blut schoss nur umso mehr hervor. Zwei Stunden lang quoll es immer wieder aus den Wunden am Mund hervor. Zusätzlich lief es auch aus der Nase. Die Schwester fauchte mich an: »Frau Ahrens, Sie müssen besser aufpassen, dass das Kind sich die Krusten nicht abpult! Sonst müssen wir ihr Handschuhe anziehen!« Wie konnte diese Person mir bei all meinem Kummer noch Vorwürfe machen? Außerdem fand ich es unmöglich, Louise noch Handschuhe anzuziehen. Ich erwiderte: »Dann können wir sie gleich noch festbinden, damit sie sich überhaupt nicht mehr bewegen kann!«
Louises Blutgerinnung war nicht in Ordnung. Die Krankenschwester bestellte Blutkonserven. Erst nach der Transfusion – vier Stunden nach Beginn der Blutungen – hörten diese endlich auf. Ich stand die ganze Zeit an Louises Bett, acht Stunden etwa. Ich hatte an der einen Seite das Gitter so weit wie möglich heruntergelassen und mich zu Louise hinuntergebeugt. Der Bettrahmen bohrte sich in meinen Magen. Ich streichelte Louise den Kopf, sang ihr etwas vor und sprach ihr Trost zu.
Die Intensiv-Chemotherapie dauerte ein halbes Jahr lang. Ich hätte diese Zeit wahrscheinlich nicht durchstehen können, wenn Rolf mir nicht hätte zur Seite stehen können. Es war im Nachhinein also gut, dass er keine Arbeit hatte. Rolf wäre auch gar nicht in der Lage gewesen zu arbeiten. Er machte sich um seine Familie große Sorgen, das
Weitere Kostenlose Bücher