Gluecklich, wer vergisst
war finster.“
Walpurga war bei meinen Worten knallrot im Gesicht geworden. Ich wollte nicht schuld an ihrem Schlaganfall sein. Doch ich war mir sicher, dass meine couragierte Mutter sie damals über die Vergewaltigung, die ich mitangesehen hatte, informiert hatte. Leider konnte ich das von Gisela nicht mehr erfahren. Aber ich könnte meinen Vater fragen …
Während ich diesen Gedanken weiterspann, begann Walpurga zu reden: „Als mir klar geworden ist, was Philip meiner kleinen Franzi angetan hat, wollte ich ihn auf der Stelle umbringen. Ich habe mir ernsthaft überlegt, wie ich ihn beseitigen könnte, ohne erwischt zu werden. Schlaflose Nächte an seiner Seite, in denen ich ihm am liebsten das Kissen auf sein schönes Gesicht gedrückt hätte. Ich habe es nicht gewagt, bin zu feige gewesen, ihn dorthin zu schicken, wo er schon damals hingehört hätte: in die Hölle.“
Ich hielt den Mund, beobachtete Walpurga aber haarscharf, versuchte, von ihrem Gesicht abzulesen, ob sie log oder endlich die Wahrheit sagte. Lügner sehen meist nach unten und manchmal verstohlen nach links. Walpurga blickte, während sie sprach, zu Boden. Außerdem pulsierte ihre Halsschlagader. Auch ein untrügliches Anzeichen dafür, dass sie mir wieder einmal eine Lügengeschichte auftischte?
„Natürlich habe ich ihn zur Rede gestellt. Er hat alles geleugnet. Als ich die Scheidung einreichen wollte, hat er zynisch gegrinst und mir unsere Heiratsurkunde unter die Nase gehalten. Wir hatten keine Gütertrennung vereinbart. Die Trennung wäre in einen furchtbaren Rosenkrieg ausgeartet. Allerdings hat in diesem Haus ohnehin immer Krieg geherrscht. Einmal habe ich ein halbes Jahr lang kein Wort mit ihm geredet. Es war ihm egal.“
„Bitte hör auf, liebe Walpurga. Darum geht es nicht“, unterbrach Dr. Braunsperger sie.
„Genau darum geht es! Ich habe alles versucht, um ihn aus dem Haus zu treiben, habe an allen Fronten gegen Philip gekämpft, und das über zwanzig Jahre lang. Aber ich habe ihn nicht umgebracht. Leider nicht! Ich hätte ihn töten müssen!“
„So etwas darfst du nicht einmal denken, Liebes. Bitte beruhige dich. Komm, lass mich deinen Blutdruck messen.“
Dr. Braunspergers Finger schlossen sich um Walpurgas Handgelenk. Er sah auf seine Uhr und kontrollierte ihren Puls. „Du gehörst ins Bett“, sagte er, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.
„Merken Sie denn nicht, wann es genug ist, Frau Doktor“, sagte er vorwurfsvoll zu mir.
Ich zuckte zusammen. Sein böser Blick und der verbitterte Zug um seinen Mund schüchterten mich ein.
„Ich halte Franzi nach wie vor für unschuldig“, betonte ich dennoch. „Ich wäre dankbar, wenn mir endlich jemand schildern würde, was an jenem verhängnisvollen Abend hier wirklich passiert ist.“ Ich deutete auf den Kamin.
Betretenes Schweigen.
„Philips Tod war mehr oder weniger ein Unfall …“, fing der Doktor an.
„Das hat die Polizei zu entscheiden“, unterbrach ich ihn scharf.
„Ich habe seinen Tod festgestellt. Er hat sich bei seinem Sturz die Halswirbelsäule gebrochen. Ich habe nichts mehr für ihn tun können.“
„Seine Augen waren weit aufgerissen, der Mund verzerrt …“, stöhnte Walpurga.
Ich ignorierte ihr Gestammel und sagte zu ihm: „Ich weiß, Herr Doktor, diese Version haben Sie der Polizei erzählt.“
Beide starrten mich irritiert an.
„Bringt Ihr Beruf dieses übermäßige Misstrauen mit sich?“, fragte mich Dr. Braunsperger nach einer Weile.
Mit der Arroganz alter Männer konnte ich gut umgehen, besser als mit ihrer Sentimentalität.
„In meinem Beruf, wie Sie es nennen, ist es wichtig, zwischen den Wörtern lesen zu können, das Wahre, das sich in den Zwischentönen verbirgt, in den Witzen, den Versprechern, der Gestik und Mimik, den Träumen und Phantasien zu erkennen“, sagte ich.
Er rümpfte die Nase. Und ich hatte eigentlich keine Lust, mit diesem bornierten alten Mann weiter zu diskutieren. Nach Walpurgas Geschichte wusste ich erst recht nicht mehr, was und wem ich glauben sollte. Mir fielen außerdem bereits die Augen zu. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen.
Walpurga schluchzte leise. Der Doktor bemühte sich weiterhin sehr liebevoll, sie zu trösten.
Ich konnte den rührenden Anblick, den die beiden boten, nicht mehr länger ertragen und wünschte ihnen eine gute Nacht.
Zum Glück hatte mir Walpurga am Morgen den Zimmerschlüssel gegeben. Ich schloss mich ein. Da ich fürchtete, wieder eine
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