Gluecklich, wer vergisst
rütteln. Irgendwann mussten sie nachgeben, wenn ich nur heftig und lang genug herumzappelte.
Inzwischen war mir am ganzen Körper kalter Angstschweiß ausgebrochen. Meine Handflächen waren feucht. Ich sehnte mich nach meiner Wohnung in Wien, nach meinem schönen, alten Kachelofen, meinem großen, wundervoll weichen Bett. Träumte von einer heißen Tasse Tee, einer Wärmeflasche, und ich träumte, auch wenn ich das nie zugeben würde, von Jan. Stellte mir vor, wie er mich im Schlaf mit seinen langen Beinen und Armen umschlang, mir den Atem raubte, weil er mich so fest an sich drückte.
Als ich ein leises Pfeifen vernahm, erstarrte ich. Diesen Ton kannte ich nur zu gut. Seit frühester Kindheit litt ich unter einer Phobie. Ich hatte panische Angst vor Ratten. Und dieses Pfeifen in meinen Ohren war unverkennbar.
Als ich ein Kitzeln an meinen nackten Knöcheln spürte, fürchtete ich, auf der Stelle an einem Herzstillstand zu sterben. Ein Schrei stieg mir in die Kehle. Es war ein stummer Schrei. Ich schlug mit meinen gefesselten Beinen wild um mich. Kreischte in Gedanken: „Verschwinde!“ Etwas Weiches streifte an meinem linken Hosenbein entlang. Mein Gesicht verzerrte sich vor Abscheu. Das Klebeband hielt meinen wilden Grimassen nicht stand. Es löste sich an der linken Wange. Mit einem ungeheuren Kraftakt riss ich meine gefesselten Hände in die Höhe, bekam mit den Fingerspitzen das etwas abstehende Band zu fassen, zog es weg und begann zu husten. Ich hustete und spuckte so heftig ich konnte, bis ich den Knebel aus dem Mund bekam. Meine Panik schien mir ungeahnte Kräfte zu verleihen. Nach drei weiteren Versuchen lockerte sich der Knoten auf meinem Rücken tatsächlich. Es gelang mir nun fast spielend, mit den gefesselten Händen das Band von den Augen zu entfernen. Einige Härchen mussten dran glauben. Doch meine Brauen und Wimpern waren mir nun egal.
Erschöpft hielt ich inne und lauschte. Das bedrohliche Pfeifen hatte aufgehört. Anscheinend hatte ich es geschafft, die Ratte zu verscheuchen. Langsam beruhigte ich mich. Meine Kehle brannte nach wie vor und das Atmen bereitete mir noch mehr Mühe als zuvor. Aber mein Verstand begann wieder zu arbeiten.
Jetzt die Handfesseln. Ich war immer stolz auf meine guten Zähne gewesen. Jetzt konnte sich mein Gebiss endlich mal beweisen. Ich hatte keine Angst, mir einen Zahn zu beschädigen oder gar auszubrechen, als ich an meinen Handfesseln zu nagen begann. Den Vergleich mit meinem Angsttier, der Ratte, verdrängte ich so gut ich konnte.
Kaute ich zehn Minuten oder eine Stunde an dieser Schnur? Ich hatte mein Zeitgefühl verloren. Das Blut hämmerte in meinen Ohren. Meine Lunge brannte. Ein stechender Schmerz fuhr mir in die Seite. Ich wurde vor Anstrengung beinahe wieder ohnmächtig.
Frustriert gab ich mich irgendwann geschlagen. Die Schnur, die er um meinen Brustkorb geschlungen hatte, war nun lose, aber ich konnte den Knoten um meine Handgelenke nicht aufbekommen.
Ich legte mich wieder hin und ging im Geiste alle Entspannungsübungen, die ich normalerweise meinen Patienten mit Panikattacken empfahl, durch.
Das Feuerzeug! Am liebsten hätte ich vor Freude lauthals aufgeschrien. Behutsam tastete ich mich mit den gefesselten Händen zur rechten Jackentasche vor, bekam aber statt des Feuerzeugs den Leatherman zu fassen. Noch besser, jubelte ich lautlos.
Meine Finger glitten an den Klingen entlang. Ich rutschte immer wieder ab, bekam aber schließlich den Flaschenöffner zu fassen.
Verzweifelt wiederholte ich den ganzen Vorgang noch einmal. Meine Finger verkrampften sich. Nicht aufgeben, Joe, befahl ich mir. Langsam und äußerst vorsichtig berührten die langen Nägel meines Daumens und Zeigefingers eine Klinge. Kaum hatte ich sie halb heraußen, klappte sie zurück. In Gedanken stieß ich die schlimmsten Flüche aus, probierte es aber gleich noch einmal.
Scheiße! Ein heftiger Schmerz durchzuckte mich. Die scharfe Klinge des Messers hatte meinen Zeigefinger gestreift. Blut tropfte auf meine Hände. Mit solchen Kleinigkeiten konnte ich mich jetzt nicht abgeben. Ich begann an meinen Handfesseln herumzusäbeln. Nach einigen Minuten waren meine blutbeschmierten Hände frei.
Die Fußfesseln aufzukriegen war dann geradezu ein Kinderspiel. Mein Feind hatte einen Kreuzknoten gemacht. War er ein Segler? Der Kreuzknoten war der einzige Segelknoten, den ich fast im Schlaf beherrschte. Auf jenem fatalen Segeltörn in Griechenland hatte mich unser Skipper stundenlang mit
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