Glückliche Ehe
an hohen Feiertagen in einer 1885 erbauten Synagoge in der Lower East Side amtierte, während er an normalen Tagen fernöstliche Meditation für Chemotherapie-Patienten anbot – was Margaret ebenso tröstlich gefunden hatte wie seine Gebete.
So viel hatte Enrique sich schon gedacht. Doch als er fragte, wo der Trauergottesdienst und die Beerdigung stattfinden sollten, sagte sie stirnrunzelnd: »Ich weiß nicht. Darüber muss ich nachdenken. Ich will nicht irgendwo draußen in Jersey begraben sein, wo ihr nie hinkommt, du und die Jungen. Aber wo ich hinwill, muss ich mir überlegen. Okay? Ich muss erst drüber nachdenken.«
Natürlich. Jeder Entscheidung, die sie traf, ging gründliches Abwägen voraus: welches Paar Schuhe sie kaufen sollte, ob der Abend schön genug war, um in einem Gartenrestaurant zu essen, ob ein dümmlicher amerikanischer Film das Richtige wäre oder ein abgehobener französischer, ob Enrique den blauen Blazer oder einen grauen Kaschmirpullover anziehen sollte, ob es besser war, sich die neue Ausstellung im Met anschauen oder ein Schläfchen zu machen und dann bei Costco einkaufen zu gehen. Das Ergebnis dieser mühsamen Entscheidungsprozesse war oft, dass sie gar nichts weiter machten, als zu lesen oder zu schwatzen. Was Enrique sehr recht war. Mit ihr allein zu sein war seine Lieblingsfreizeitbeschäftigung, für ihn war Margaret eine Partyeinladung, die er jederzeit freudig annahm. Es war gar nicht so, dass sie es so sehr hasste zu planen, sie hasste es, sich zu entscheiden. Sie genoss es, Alternativen zu überdenken. Sie vertagte Entscheidungen gern auf ein Kalenderdatum, das sie immer weiter hinausschob.
Aber ihre Beerdigung war keine Sache in fernerer Zukunft. Sie hatte sich Bedenkzeit ausgebeten und schon einpaar von den kostbaren Tagen verstreichen lassen. Vierzehn waren es noch gewesen, nachdem sie mit Dr. Ko geredet und entschieden hatten, wie Margaret sterben würde. Dreizehn, nachdem er mit der intravenösen Verabreichung der Steroide begonnen hatte, die ihr die Kraft für eine Verabschiedungswoche geben sollten. Zwölf Tage waren es noch, nachdem er alle Termine mit ihren Freunden und Verwandten gemacht hatte. Nur noch zwölf Tage plus /minus einem oder zweien, und noch immer hatte sie die Frage nicht beantwortet, die ihre Eltern morgen behutsam, aber beharrlich wieder stellen würden. Laut Plan würden Dorothy und Leonard mit Margarets beiden Brüdern und deren Frauen kommen, um Abschied zu nehmen, das erste cohensche Familientreffen, das nicht an einem nationalen oder religiösen Feiertag stattfand. Dorothy hatte Enrique schon zweimal telefonisch gefragt, ob sie sich wegen der Beerdigung entschieden hätten. Er hatte sie vertröstet, und Dorothy hatte laut, als spräche sie mit einer dritten Person, die Frage gestellt, woher Enrique denn wissen wolle, was zu tun sei, er habe doch noch nie eine Beerdigung organisieren müssen – was heißen sollte, dass er auf ihre Unterstützung angewiesen sei. Margaret und Enrique waren umstellt. In vierundzwanzig Stunden würde ihre Position nicht mehr zu halten sein, und noch immer hatte sie ihrem Adjutanten nicht gesagt, welchen Alternativplan er Dorothy und Leonard unterbreiten solle.
Margarets Antwort kam, als ihnen noch siebzehn Stunden blieben und er gerade die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg, nachdem er sich bei Dean & Delucca einen Kaffee geholt hatte, eine dringend benötigte Dosis Koffein. »Puff«, rief sie, als sie seine Schritte hörte, so wie sie es immer getan hatte, seit sie nach Max’ Geburt hier eingezogen waren. Er antwortete nicht sofort, weil es ihn sprachlos machte, wie tröstlich diese Begrüßung in seinen Ohren klang. »Bist du’s?« Ihre Stimme war rauh von den Chemo-Tränen und ihr Tonein wenig besorgt, weil er ihr nicht sofort geantwortet hatte. »Ich möchte dich was fragen«, sagte sie, als er ins Zimmer trat. Nackt bis auf einen schwarzen Slip, schob sie ihren Tropf mit der Hydratationslösung und dem Beutel mit Steroiden neben sich her: Brust und Bauch perforiert von Kathetern und Sonden, der Körper abgezehrt, die Haut papieren und faltig von vierzehn Monaten Chemotherapie. Sie mühte sich, ein weißes T-Shirt anzuziehen. Enrique half ihr bei den Manövern, die ihr Brustkorbport erforderte, nahm die Beutel mit den Flüssigkeiten ab und steckte sie durch die Armlöcher des Shirts, bis es ihr gelungen war, ihre Arme hindurchzubringen und die Wunden zu bedecken. Während dieses Tanzes sagte sie: »Tust du
Weitere Kostenlose Bücher