Glücksfall
von Sydney hatte frisieren lassen? Passend zu der früheren Frisur auf seinem Kopf? Doch der Tonspur des Films nach zu urteilen, bewegten wir uns nicht im Nacktflötenbereich. Eher klang es wie ein Familientreffen. Ich hörte Lachen und Stimmen, die gleichzeitig sprachen, und als ich vorsichtig ein Auge öffnete, sah ich, wie die Kamera auf Waynes Mum zuhielt – ich erkannte sie von den Fotos auf dem Bord –, und Waynes Stimme sagte: »Und das ist Carol, das Geburtstagskind. Möchtest du zu diesem denkwürdigen Anlass ein paar Worte sagen?«
Carol lachte und wedelte mit der Hand. »Hör auf, hör auf, nimm das Ding da weg.«
»Na gut«, sagte Wayne. »Rowan, möchtest du mal das Fil men übernehmen?«
Nach einem verschwommenen Schwenk über den Fußboden erschien Wayne zusammen mit einem Jungen, der vielleicht zehn Jahre alt war, auf dem Bildschirm. »Wir filmen uns selbst«, sagte der Junge. »Ich bin Rowan, und das ist mein Onkel Wayne. Er ist mein Lieblingsonkel, aber das dürfen wir Onkel Richard nicht sagen.«
Richard war Waynes Bruder, Rowan war also der Sohn von Waynes Schwester.
»Grandma Carol hat heute Geburtstag«, sagte Rowan. »Sie wird fünfundneunzig.«
So alt?, dachte ich verblüfft. Sie sah um Jahrzehnte jünger aus. Immer das Gleiche, die Lebertran-Methode.
»Gar nicht wahr!«, sagte eine Stimme. »Ich bin fünfund sechzig .«
»Ich kann keine Zahlen«, sagte Rowan.
»Du bist ganz schön frech.«
»Mach du mal weiter«, sagte Wayne zu Rowan. Eine erneute Ansicht des Fußbodens, als Rowan die Kamera über nahm, und danach war die Kameraführung längst nicht mehr so stabil.
Unter Rowans Führung gingen wir durchs Haus – ich nahm an, dass es das Haus von Waynes Eltern war – und kamen zur Küche. »Das ist Mum«, sagte Rowans Stimme. »Und meine Tante Vicky.«
Zwei Frauen – Waynes Schwester Connie und Vicky, Waynes Schwägerin – saßen am Küchentisch. Sie tranken Rotwein, und die Kamera näherte sich ihnen so weit, dass man eine sagen hörte: »… und sie kann sich zwischen den beiden nicht entscheiden.« Plötzlich richtete Connie sich auf und blickte direkt in die Kamera. »Mensch, ist das Ding an?«
»Mach es aus!«, sagte Vicky. »Sonst kriegen wir noch eine Anzeige.«
Aber alles in freundlichem Ton.
Weiter ging’s. Wir begegneten Granddad Alan (Waynes Vater), der eine Schürze und Topfhandschuhe anhatte und ein Blech mit Würstchen im Schlafrock aus dem Ofen holte. Dabei sang er »When I’m sixty-five« auf die Melodie von »When I’m sixty-four«.
Wir begegneten Baby Florence, das gar kein Baby mehr war, eher ein Kleinkind, das ein Plastikbötchen in unsere Richtung warf. Wir begegneten Suzie und Joely, zwei kleinen Mädchen, ungefähr in Bellas Alter und ebenso rosa. Eigentlich sind wir ihnen nicht richtig begegnet, denn sobald sie Wayne und Rowan mit der Kamera sahen, riefen sie: »Jungen raus!« Und die Kamera verzog sich eilig.
Wir begegneten Ben, Rowans älterem Bruder, der sich pubertär gab und mit verächtlicher Miene hinter einem Buch Deckung suchte. Wayne zeigte Rowan, wie man den Zoom bediente – man konnte das nicht sehen, sondern nur seine Stimme hören –, damit man den Titel lesen konnte.
» Der Fremde von Albert Camus«, sagte Rowans Stimme. »Eins von Bens blöden Büchern. Er liest die ganze Zeit.« Trotz des spöttischen Klangs verbarg seine Stimme nicht, dass Rowan von den Veränderungen in seinem Bruder verwirrt und ein bisschen gekränkt war.
»Damit hört er auch wieder auf«, sagte Wayne verständnisvoll.
»Du hast auch nicht aufgehört«, sagte Rowan.
»Ach, eigentlich schon, ich tu nur so.«
Dann sahen wir Kuchen und Kerzen und die Familie, die sich in der Küche versammelt hatte und »Happy Birthday« sang. Wir hörten Klatschen und Juchzen und den Ruf nach einer Rede. Als der kleine Film zu Ende war, wären mir fast die Tränen gekommen. Und ich hatte etwas sehr Wichtiges begriffen. Ich hatte begriffen, dass Wayne ein anständiger Mensch war. Er war gut zu Kindern, er erlaubte ihnen, mit seiner teuren Videokamera zu hantieren, und mischte sich nicht dauernd ein. Er liebte seine Familie, und seine Familie liebte ihn, das war offensichtlich.
Aus Gründen, die niemanden etwas angingen, wollte Wayne nicht mehr zu den Laddz gehören, und das war sein gutes Recht.
Ich würde die Suche abbrechen.
40
I ch musste mit Jay Parker von Angesicht zu Angesicht spre chen. Wenn ich es ihm am Handy sagte, würde er versuchen, mich davon
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