Glücksfall

wissen.
    In meiner paranoiden Verfassung sah ich mich im Garten um, aber nirgendwo entdeckte ich grinsende, schadenfrohe Gesichter.
    Ich sah nur lauter Menschen, die sich Burger ins Gesicht stopften und deren Kinn mit Ketchup, Senf und Spucke verschmiert war. Und plötzlich schien der Garten voll von Lebewesen einer Rasse, die kaum menschlich wirkte, son dern eher wie eine Kreuzung zwischen Mensch und Schwein anmutete.
    Ich machte die Augen zu, um die schrecklichen Schweinchengesichter nicht sehen zu müssen, aber als ich sie wieder öffnete, war vor mir der Grill, auf dem die Würstchen wie widerliche, fette Knorpel lagen, und die Hühnchenteile wie tote, kopflose Babys aussahen. Der Ketchup war zu rot, und der Senf von einem schrecklichen, bedrohlichen Gelb.
    Ich wandte mich ab, doch mein Blick wurde zu einem der Fenster oben im Haus gezogen, wo Kate stand und mit unfassbarer Boshaftigkeit auf uns hinunterstarrte. Es war wie in einem Horrorfilm.
    Besser, ich ging.
    Ich brauchte mich von niemandem zu verabschieden. Eine unhöfliche Familie hat eben auch Vorteile. Ich schob mich an den schweinsgesichtigen Halbmenschen vorbei und suchte die Sicherheit des Hauses auf, damit ich unbemerkt in die barmherzige Freiheit entkommen konnte, als eine Frau mir den Weg verstellte. Sie tauchte ganz plötzlich vor mir auf, wie die Hand aus dem Grab in Carrie .
    »Helen Walsh!«, sagte sie.
    Ich starrte sie an. Wer um alles in der Welt war das?
    »Josie Fogarty!«, sagte sie. »Von der Schule! Was für ein Zufall! Erst neulich habe ich Shannon O’Malley getroffen – du weißt schon, die Arzthelferin von Dr. Waterbury –, und wir haben über dich gesprochen. Wir haben gesagt, wie verrückt du warst, einfach zum Schreien . Wir sollten uns alle mal treffen. Mein Ältester ist mit Claires Jüngstem im Judo, deswegen bin ich gekommen. Ich treffe mich immer noch mit vielen aus der Schule. Wen kennst du noch von früher?«
    Sie machte eine Pause, woran ich merkte, dass sie eine Antwort von mir erwartete.
    »Ich …« Aber mehr brachte ich nicht heraus. Ich versuchte es wieder. »Ich …« Ich sah sie flehentlich an. Es war schrecklich, ich konnte ihr nicht antworten. Ich war zu weit weg, zu tief vergraben. Antworte , sagte ich mir, sag etwas. Aber ich war achttausend Meilen hinter meinem Gesicht, und die Entfernung war zu groß, meine Stimme konnte sie nicht überbrücken.
    »Ich …« Ich konnte meine Gesichtsmuskeln nicht mehr kontrollieren. Ich bemühte mich, normal und freundlich auszusehen, aber meine Muskeln zuckten wie die Gliedmaßen einer Marionette. Mein Blick war erstarrt, und ich konnte nichts dagegen machen.
    Josie Fogarty sah mich befremdet an. Verwirrt. Dann verängstigt. Und plötzlich mit dem deutlichen Bedürfnis, woanders zu sein. Verzweifelt wartete sie, dass ich etwas sagen und uns damit aus diesem scheinbar endlos währenden Verharren befreien würde
    »Schön, dass wir uns getroffen haben«, rang sie sich schließlich ab und entfernte sich mit schnellen Schritten.
    Was für eine Demütigung. Aber der Weg vor mir war frei. Ich konnte gehen.

44
    M an sagt, was einen nicht umbringt, macht einen stärker, aber das stimmt nicht. Es macht einen schwächer. Es macht einen ängstlicher.
    Man sieht das manchmal bei Fußballspielern. Sie brechen sich den Fußknöchel, der Bruch wird geschient, das Bein kommt in ein komisches gläsernes Sauerstoffzelt, was die Heilung beschleunigt, sie kriegen das Neueste an Physiotherapie und werden als geheilt entlassen. Aber sie sind nie wieder so gut wie vorher. Sie können sich dem Spiel nicht mehr mit derselben Angriffslust hingeben.
    Nicht weil ihr Fußknöchel schwächer wäre als zuvor, sondern weil sie den Schmerz erfahren haben, weil sie ihre eigene schockierende Verletzlichkeit erlebt haben, und zwar mit solcher Unmittelbarkeit, dass sie sich fortan unwillkürlich schützen. Die Unschuld ist verschwunden.
    Ich hatte einen Ausbruch von Depression überstanden, und seither lebte ich in der Angst, dass es wieder passieren könnte. Und hier passierte es wieder.
    Mein Zustand verschlechterte sich rapide. Während die Suche nach Wayne im Gange war, hatte ich mich aufrecht halten können. Jetzt war da nichts mehr.
    Vielleicht würde es mir helfen, wenn ich zu Artie ging. Aber vielleicht auch nicht. Artie mochte starke Frauen. Und ich war nicht stark, nicht in diesem Moment.
    Es bestand kein Zweifel, das Grillfest der Devlins hatte das Zeug zum Gewinner des Goldenen Sterns. Es würde