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Glücksfall

Glücksfall

Titel: Glücksfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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Sie hatte drei Kinder. Eine Weile später begegnete ich ihrer Mutter im Blackrock-Einkaufszentrum, wo sie sich, wahnsinnig vor Trauer, durch die Gänge schleppte. Sie erkannte mich vage als jemanden, der ihre Tochter gekannt hatte, und sah mir mit wildem Blick in die Augen, war aber gleichzeitig völlig abwesend. »Selina hat wie eine Löwin gekämpft«, sagte sie und packte meinen Arm so fest, dass es wehtat. »Sie hat wie eine Löwin um ihr Leben gekämpft.«
    Aber sie war gestorben.
    Und das meine ich. Menschen werden krank, und manch mal werden sie wieder gesund, und manchmal nicht. Und es ist völlig unerheblich, ob es sich bei der Krankheit um Krebs oder eine Depression handelt. Manchmal wirken die Medikamente, manchmal nicht. Manchmal wirken sie eine Zeit lang und dann nicht mehr. Manchmal wirken die alternativen Methoden und manchmal nicht. Und dann fragt man sich, ob die Behandlung überhaupt etwas bewirkt, ob eine Krankheit nicht wie ein Sturm ist, der sich austoben muss, und am Ende ist man entweder lebendig, oder man ist tot.
    Herr im Himmel, da war ja Walter Wolcott!
    Sprang aus dem Auto, pochte an Birdies Haustür, linste durch die Fenster. Feinfühlig wie ein Trampeltier.
    Ich sah, wie er das Abflussrohr musterte und offenkundig überlegte, ob er daran hochklettern konnte, um einen Blick in die Schlafzimmerfenster zu werfen.
    »Das hält Ihr Gewicht nicht aus«, rief ich. »Sie machen nur das Haus kaputt.«
    Er starrte mich an, und ich winkte ihm fröhlich zu und fuhr los.
    Weiter ging es nach Norden. Irgendwie wanderten meine Gedanken zu Antonia Kelly, meiner Therapeutin.
    Sie war ganz anders, als ich erwartet hatte. Sie verlangte nicht, dass ich mich auf eine Couch legte, und fragte mich auch nicht über meine Kindheit oder meine Träume aus. Sie gab auch nicht jede Frage, die ich ihr stellte, wieder zurück, indem sie mich fragte, wie ich das sah.
    Sie war etwas, was sie nicht hätte sein sollen: meine Freundin. Meine einzige Freundin, um ehrlich zu sein. Sie war der einzige Mensch, dem gegenüber ich schonungslos ehrlich sein konnte, und sie verurteilte mich nie.
    Sie fragte mich zum Beispiel: »Wie geht es Ihnen, Helen?« Und ich antwortete: »Ich habe überlegt, ob ich das Brotmesser nehmen und mir damit den Bauch aufschlitzen soll. Wenn ich meine Eingeweide rausholen könnte, würden diese Gefühle vielleicht weggehen.«
    Weder brach sie in Tränen aus, noch sagte sie, ich müsse stark sein. Sie sagte auch nicht, sie würde es nicht aushal ten, wenn ich stürbe. Und sie rief nicht eine meiner Schwes tern an, um zu erzählen, dass ich ein egoistischer Jammerlappen sei und mich in Selbstmitleid suhle.
    Ich musste sie nicht vor meinen schrecklichen Gefühlen beschützen. Sie kannte das alles, nichts konnte sie schockieren.
    Am Anfang unserer »Beziehung« saß ich einmal in ihrem Wartezimmer und nahm ein Buch aus ihrem Regal. Es blätterte sich von selbst auf, und ein Satz sprang mir ins Auge: »Viele Therapeuten werden in ihrem Berufsleben die Erfahrung machen, dass ein Klient Selbstmord begeht.«
    Ich wusste, dass es bei Antonia Kelly der Fall war. Dass sie einen Klienten durch Selbstmord verloren hatte, meine ich. Und ich dachte: Sehr gut, dann weiß sie ja, womit sie es hier zu tun hat.
    Sie brachte mich nicht in Ordnung. Sie lieferte mir keine Erklärung für meinen Wunsch zu sterben. Aber sie schaffte das geradezu Unmögliche in ihrem Verhältnis zu mir, den Spagat zwischen Distanz und Mitgefühl. Was die Distanz anging – ich bedeutete ihr nichts, ich war ein Niemand für sie. Zweimal in der Woche hatte ich eine Stunde, in der die schrecklichen Gedanken, die in meinem Kopf herumwirbelten wie Wäsche in der Trommel, langsamer wurden und ich sie durch meinen Mund äußern und mit meinen Ohren hören konnte, und ich musste mir keine Sorgen darüber machen, welche Wirkung das auf sie hatte.
    Und zugleich wusste ich, dass ich ihr wichtig war. Ich wusste nicht, was sie selbst an schlimmen Dingen durchgemacht hatte – ich hatte danach gefragt, aber natürlich hat sie nichts erzählt; auch über ihren schönen schwarzen Audi TT, den ich zufällig draußen auf der Einfahrt gesehen hatte, sagte sie nichts –, aber ich wusste, dass sie andere Klienten in ähnlich zermarterter Verfassung gesehen hatte. Ich war nicht allein. Ich war nicht die Einzige.
    Obwohl ich sie bezahlte und obwohl ich nicht die Einzelheiten erfuhr, die man normalerweise über einen Menschen erfährt, dem man sich nahe fühlte

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