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Glücksfall

Glücksfall

Titel: Glücksfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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zu. Hunderte von Formularen müssen ausgefüllt werden. Nie lässt sich ein Kugelschreiber auftreiben. Ein Schichtwechsel findet mitten im Satz statt, und man muss mit seinem Bericht wieder ganz von vorn anfangen, mit einem neuen Polizisten. Jahreszeiten gehen ins Land, ganze Gletscher schmelzen, bevor man den Verlust einer Brieftasche erfolg reich gemeldet hat. Wayne konnte hundertmal tot sein, ehe der ganze bürokratische Krempel erledigt war.
    Allerdings gab es eine Möglichkeit, den ganzen unsäglichen Prozess zu umgehen. Es verstieß zwar gegen ethische Grundsätze, aber warum sollte ich mich an ethische Grundsätze halten? Der schnellste Weg, die Polizei zu alarmieren, führte über Artie.
    Das würde ihn nicht glücklich machen, aber Pech.
    Ich fuhr an den Rand und wählte seine Handynummer, und diesmal war er sofort dran.
    »Wo bist du?«, fragte ich.
    »Bei der Arbeit.«
    »Im Büro?«
    »Ja.«
    »Weich nicht von der Stelle. Ich bin auf dem Weg zu dir.«
    Ich schaltete ab, bevor er etwas sagen konnte.
    Er saß an seinem Schreibtisch in dem Büro mit der gläsernen Wand. Sein hellblaues Hemd war zerknautscht, die Manschetten umgeschlagen, und seine Haare waren für einen Polizisten zu lang. Alles in allem ein erfreulicher Anblick.
    Ich machte die Tür hinter mir zu. Einige seiner Macho-Kollegen liefen draußen im Großraumbüro rum, und ich wollte nicht, dass sie etwas hörten. Mir fiel auf, dass sie alle zerknautschte Hemden trugen; offensichtlich hatten sie keine Frauen in ihrem Leben, die bereit waren, Hemden zu bügeln – vielleicht hatte das was mit ihrem Beruf zu tun.
    »Also«, sagte ich, zog einen Stuhl heran und setzte mich Artie gegenüber an den Schreibtisch. »Das ist die Geschichte.« Ich erzählte ihm alles – von Wayne, Daisy und Cain, von den Männern im schwarzen SUV …
    Artie nahm es gelassen auf. Zu gelassen.
    »Gab es Anzeichen von Gewalt?«, fragte er.
    »Das weiß ich nicht, ich weiß nicht, wie es bei Wayne normalerweise aussieht.«
    »Zerbrochenes Glas? Umgestoßene Möbel? Nachbarn, die von Schreien berichten?«
    »Hör mir zu, Artie – Männer, mindestens zwei Männer, sind mit Wayne in einem dicken schwarzen Auto weggefahren.«
    »Geh zur Polizei.«
    »Du bist die Polizei.«
    »Nein, bin ich nicht.«
    Na ja, einerseits doch, andererseits nicht.
    »Nicht die Sorte, die du brauchst«, fügte er hinzu.
    Ich sah ihn durchdringend an und hoffte, er würde sich bedrängen lassen, mir zu helfen. Er erwiderte meinen Blick und blieb dabei ruhig und entspannt auf seinem Stuhl, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
    »Ich weiß, dass es ›unangemessen‹ ist«, sagte ich. »Unangemessen«, auch so ein Wort, das ich hasse. In die Tonne damit, gleich nach »geerdet« und »spirituell«.
    »Artie, auf einer gewöhnlichen Polizeiwache nehmen die mich doch nicht ernst. Wenn sie hören, dass ich Privatdetektivin bin, werden sie alles tun, um meine Arbeit zu behindern. Und wenn ich ihnen dann noch sage, dass es um Wayne geht, fällt ihnen gleich seine Frisur ein, und sie lachen sich kaputt. Es gibt doch bestimmt jemanden, der dir noch einen Gefallen schuldet.«
    »Tu das nicht, Helen.«
    »Du musst mir helfen.«
    »Ich muss dir nicht helfen.«
    »Du bist mein Geliebter.«
    Er seufzte.
    »Ich sage Vonnie, dass du gemein zu mir bist.«
    Er verdrehte die Augen.
    »Ich sage Bella, dass du gemein zu mir bist.«
    Wieder verdrehte er die Augen, und ich sah ihn flehentlich an.
    »Nein, Helen.« Er schüttelte den Kopf. »Dieser Blick wirkt bei mir nicht.«
    Aber ich sah ihn weiter unverwandt an und überlegte, was er wohl die ganze Zeit dachte und wie lange es dauern würde, bis ich mich durchsetzte. Ich war ziemlich beeindruckt, dass er so lange standhielt, aber schließlich – er hatte den Blick nicht gesenkt – nahm er den Telefonhörer und sagte: »Artie Devlin. Können Sie mir bitte Sergeant Coleman geben?«
    Wenige Sekunden darauf kam ein wichtiger Mensch an den Apparat – natürlich ein Mann –, und Artie sprach Ewigkeiten mit selbstbewusster Stimme und gab ihm alle möglichen Informationen: Waynes Adresse, die von Daisy und Cain, meine Adresse. Meine Telefonnummer, mein Geburts datum.
    Zum Schluss sagte er: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es vorrangig behandeln könnten.«
    Dann legte er auf.
    »Gut«, sagte er zu mir. »Zwei Beamte sind auf dem Weg zu Daisy und Cain. Ich komme mit.«
    »Ich stehe in deiner Schuld«, sagte ich.
    Er nickte. »Das stimmt, du stehst in meiner Schuld.«

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