Glücksfall
Abend auch.«
»Oh«, sagte ich, mir wurde leichter ums Herz. Das war großartig. Ich war gerade auf die moderne Version eines neugierigen, argusäugigen alten Menschen gestoßen: ein jun ges arbeitsloses Pärchen.
Sie stellten sich als Daisy und Cain vor und hießen mich wärmstens willkommen. Sie waren sehr gebräunt – »vom Sonnenbaden im Garten«. Cain war Software-Verkäufer und seit acht Monaten arbeitslos, Daisy war Verkäuferin für Sanitäranlagen und seit anderthalb Jahren arbeitslos.
»Wir haben beide Antidepressiva verschrieben bekommen«, sagte Daisy mit irgendwie unpassender Fröhlichkeit, »aber wir können sie uns nicht mehr leisten.«
Sie führten mich in ihr Wohnzimmer. »Kommen Sie. Kommen Sie rein.« Leider war das Haus von Daisy und Cain nicht so attraktiv wie die beiden selbst. Die kühnen Tapeten stammten aus einer Zeit, als große Muster in lauten Farben modern gewesen waren, aber die Zimmer waren eindeutig zu klein dafür.
»Wir bieten Ihnen nichts zu trinken an …«
»… wir haben nämlich nichts, was wir Ihnen anbieten könnten.«
Sie lachten laut.
Diese Fröhlichkeit! Dieses bizarre, optimistische Verhalten. Vielleicht übten sie sich in einer positiven geistigen Haltung. Vielleicht – mein Mund kräuselte sich verächtlich – hörten sie The Wonder of Now .
»Wir können uns auch nichts zu essen leisten, deshalb essen wir Tomatensuppe. Ich war noch nie so dünn«, sagte Daisy.
Das schreiende Tapetenmuster stellte seltsame Dinge mit meinen Augen an, es verzerrte die Perspektive, und alle paar Sekunden schien die Wand ins Dreidimensionale zu kippen und sich vor mir aufzubäumen.
»Fragen Sie, was Sie wollen«, sagte Cain. »Wir beobachten unsere Nachbarn die ganze Zeit.«
»Wir gehen nie aus«, sagte Daisy. »Wir unternehmen nichts. Wir sind immer zu Hause.«
In dem Moment wollte die Wand einen großen Satz auf mich zu machen, und ich schrak zurück und hielt mir zum Schutz den Arm vor die Augen.
»Das macht sie manchmal«, sagte Daisy im Ton einer Ent schuldigung. »Ich wollte die Tapete nicht.«
»Und jetzt werden wir sie nicht mehr los.«
»Um was für eine Geschichte geht es denn?«, fragte Daisy.
»Hat es mit Wayne Diffney zu tun?«, fragte Cain.
»Was hat er gemacht?«, fragte Daisy interessiert. »Hat er eine Affäre mit der Frau eines anderen? Der Frau eines Politikers, wahrscheinlich. Die Presse ist ihm auf den Fersen, und am Sonntag kommen alle Zeitungen mit großen Schlagzeilen, stimmt’s? Deswegen hat er sich abgesetzt.«
»Er hat sich abgesetzt?«
»Ja.« Cain verdrehte die Augen. »Deswegen ist er gestern Vormittag in dem großen schwarzen Auto weggefahren.«
Mein Nervensystem sprang an und generierte genug Strom, um ganz Hongkong damit zu versorgen. »Einen Moment mal, bitte.« Ich konnte kaum sprechen, weil mein Mund so trocken war. »Sie haben gesehen, wie Wayne in ein großes schwarzes Auto gestiegen ist? Gestern Vormittag?«
»Ja. Wie spät war es, Daze? Ungefähr halb zwölf?«
»Eine Minute vor zwölf.«
»Wie können Sie das so genau sagen?«, fragte ich.
»Der erste Teil der Jeremy Kyle Show war gerade vorbei. Es gibt drei hintereinander. Um elf, um zwölf und um eins.«
»Ist Wayne mit seinem eigenen Auto weggefahren?« Ich wollte ein paar Punkte klären. »Sie wissen, dass er einen schwarzen Alfa hat?«
Cain schüttelte den Kopf. »Es war nicht sein Auto. Das steht ja noch da. Es war ein großer SUV.«
»Und dann? Ist er einfach losgefahren?«
»Nein. Wayne ist nicht selbst gefahren. Da waren noch andere Leute. Männer. Einer von denen ist gefahren.«
Männer! Mein Herz fing so laut an zu klopfen, dass ich kaum klar denken konnte. »Wie viele Männer?«
»Mindestens einer«, sagte Cain mit Überzeugung.
»Zwei«, sagte Daisy.
Meine Zunge war am Gaumen festgeklebt, und ich versuchte sie zu lösen. »Bitte denken Sie über die nächste Frage sorgfältig nach. Sagen Sie nichts, bloß weil Sie denken, das möchte ich hören, antworten Sie einfach ehrlich.«
»Okay.«
»Wie sah Wayne aus?«
Nach einigem Nachdenken sagte Cain: »Irgendwas stimmte nicht mit seinen Haaren.«
»Stimmt. Irgendwie sah es … wirr aus.«
»Ich meinte eher: Wie wirkte er? Glücklich? Nicht so glücklich?«
Sie sahen einander an. Ihnen schien aufzugehen, wie ernst die Sache war. Cain schluckte.
»Also«, sagte Daisy bedächtig. »Es ist schon möglich, dass er Angst hatte.«
Nach ein paar Augenblicken nickte Cain und sagte: »Genau.
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