Glückskekssommer: Roman (German Edition)
Wichmann, Atelier Weller, Schneiderkunst Hübner, Anfertigungen und Änderungen aller Art Ahrend … wie sie nicht alle heißen.
Sie haben keinen Bedarf (»… sowieso zu viele Angestellte«), gerade eine schwierige wirtschaftliche Situation (»Die Leute sparen an allem, wissen Sie?«) oder hören mir gar nicht richtig zu (» … so viel zu tun. Keine Zeit, jemanden anzulernen«).
Als ob man mich anlernen müsste! Ich nähe einen schnurgeraden Saum mit geschlossenen Augen – von popeligen Reißverschlüssen, langweiligen Rückenmittelnähten, endlosem Maßnehmen und Abstecken mal abgesehen. Als gelernte Schneiderin kann ich das alles.
Als ich abends nach Hause komme, bin ich kurz vor dem Nervenzusammenbruch.
»Du hast ja gar nichts zu essen gemacht«, nölt Lila zur Begrüßung. Sie knallt die Kühlschranktür zu und stellt extra laut scheppernd einen Topf auf den Herd.
Das gibt mir den Rest. Den ganzen Tag war ich tapfer. Jetzt kann ich nicht mehr. Ich bin sogar zum Heulen zu schlapp, stehe mit hängenden Schultern da und schaue sie fassungslos an.
Lila schämt sich und nimmt mich tröstend in die Arme. »Was ist denn los, Süße?«, fragt sie. »Hat Rob mit dir Schluss gemacht?«
»Wie kommst du denn darauf?«, ich bin verblüfft. »Rob hat nur wenig Zeit im Moment. Aber er ist ganz lieb. Er hat mir eine SMS geschickt, dass er mir Glück wünscht für heute und so.«
Lila ist knallrot geworden. »Ich dachte nur, weil du so fertig aussiehst …«
»Doch nicht wegen Rob«, sage ich verzweifelt. »Es ist wegen der Arbeit. Keiner will mich einstellen! Ich war überall. Bei jeder Schneiderei in Charlottenburg, Wilmersdorf und Steglitz.«
»Es sind ein paar Briefe für dich angekommen. Vielleicht ist eine Einladung für dich dabei.«
Ich schleppe mich zum Tisch, auf den Lila die Post gelegt hat – alles große, dicke Umschläge. Ich wische sie wütend auf den Boden. »Die Senner steckt dahinter«, schreie ich. »Sie hat in der ganzen Stadt verbreitet, dass ich ihre Arbeit sabotiert habe. Deshalb will mich keiner einstellen. Alle denken, ich schädige meine eigene Meisterin. So jemanden will natürlich keiner haben.«
Lila lässt mich wüten und sagt erst mal gar nichts. Sie kennt mich und hofft darauf, dass ich mich nach dem ›Ausbruch‹ wieder ganz schnell beruhige.
Aber da kann sie lange warten!
Ich hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank und stürze es hinunter. Die Kühle tut meinem rauen Hals für einen Moment ganz gut. Lila guckt nach, was ich eingekauft habe.
»Ich mache heute mal was zu essen, ja?«, bietet sie an. »Ruh dich ein bisschen aus.«
Ich gehe in mein Zimmer, mache die Tür zu und lasse mich auf die Couch plumpsen. Essen will ich nichts. Ich kriege sowieso nichts runter. Das Bier ist mir nicht bekommen. Mein Magen tut weh. Mir schwirrt der Kopf.
Als eine Stunde später leckerer Bratenduft durch die Wohnung zieht, liege ich mit glühend heißer Haut und feuerrotem Kopf in meinem Bett. Lila erschrickt und holt sofort das Fieberthermometer. 39,8 Grad.
»Wir müssen zum Arzt, aber schnell«, beschließt sie.
»Kannst du vergessen«, stöhne ich. »Ich kann nicht aufstehen, und ich will auch nicht.«
Lila seufzt. »Manchmal komme ich mir vor wie dein Kindermädchen«, nuschelt sie und ballt die Fäuste.
Ich habe natürlich gehört, was sie gesagt hat.
Pah! Wer bedient denn hier wen, seit ein paar Wochen?
»Versteh doch, Lila«, flehe ich. »Ich kann mich jetzt nicht in eine U-Bahn setzen und durch die halbe Stadt zu irgendeinem Krankenhaus fahren.«
Es ist später Abend. Da hat der Arzt um die Ecke keine Sprechzeit mehr und auch keine andere Praxis in der Nähe.
»Musst du doch auch nicht«, erwidert Lila. »Wir nehmen uns ein Taxi.«
Seit wir zusammen wohnen, überweisen unsere Mütter uns jeden Monat hundert Euro. Die stecken wir in eine Spardose – als Geld für Luxusausgaben. Taxifahren gehört eindeutig dazu.
Vor meinen Augen tanzen Sterne. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich platzen. Lila hat recht. Ich muss zum Arzt. Mir wird mit jeder Minute elender.
Etwa eine halbe Stunde später halten wir vor einer Klinik. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Lila hat alles gemanagt. Sie ist es auch, die mich jetzt durch irgendwelche Flure schleift, auf einen Stuhl setzt und die Anmeldung in der Notaufnahme für mich macht. Ich bin völlig willenlos. Irgendwann untersucht mich eine nette Ärztin. Sie verschreibt mir einen Haufen Medizin und ordnet an, dass ich in
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