Glückskekssommer: Roman (German Edition)
am Arm fest, um mir ein paar Takte zu erzählen. Aber nicht die Geister von Vickis Vorfahren machen mir die größte Angst, sondern ein sehr diesseitiges Problem.
»Was ist los?«, fragt Vicki. »Hat dir meine Ur-Urgroßtante Augusta einen Schrecken eingejagt? Man erzählt sich übrigens, dass die Gute aus Versehen lebendig begraben wurde. Als man Jahre später ihre Gruft öffnete, lag ihr Skelett vor der Tür und aus den Ziegelsteinen war der Mörtel herausgekratzt.«
An Vickis Grinsen sehe ich, dass sie mich auf den Arm nimmt. Allerdings hat sie ja wohl eine ziemlich ausufernde Fantasie. Es scheint, dass wir gut zusammenpassen.
»Die Miete«, bringe ich mühsam hervor. »Ich kann doch gar nicht so viel Miete bezahlen.«
Kaum bin ich angekommen, steht mir schon wieder der Rausschmiss bevor. Mein Luxus-Zimmer muss ja Unsummen kosten.
»Wir teilen uns die Kosten für das Essen. Das reicht«, sagt Vicki schlicht. Sie wendet sich einem großen Foto zu, das einen bärtigen Mittvierziger im Safarilook zeigt, der auf einem reich geschmückten Elefanten reitet. »Hier, das ist mein Onkel Heiner. Von dem habe ich die Wohnung. Sie gehört mir. Ich muss keine Miete zahlen, du also auch nicht.«
H. v. L.!
Ich verstehe. Aber noch nicht so ganz. Jetzt kann ich nicht mehr länger an mich halten. »Wie kommst du zu so einer stinkreichen Verwandtschaft?«, platze ich heraus. »Ich meine, ich kriege von meinen Leuten manchmal 50 Euro zugesteckt. Dein Onkel vererbt dir einen halben Palast. Und überhaupt – warum steht auf allen Bildern ›sowieso von Liesen‹? Du heißt doch gar nicht von Liesen!«
»Doch, irgendwie schon«, sagt Vicki.
»Irgendwie?«, staune ich. »Entweder man heißt so oder nicht!«
»Kannst du dich noch an meine Eltern erinnern?«
Oh ja, das kann ich.
Die Liesens hießen bei uns im Dorf nur ›die Spinner‹, weil sie als einzige der damals noch ziemlich unpopulären Ökologiebewegung anhingen. Vickis Vater hatte eine seltsame, futuristisch aussehende Regenwasseraufbereitungsanlage an ihrem Haus angebracht. Wenn man an ihrem Grundstück vorbeilief, roch es nach ihrem ökologisch korrekten Humusklo und auf ihrem Dach wuchsen Gräser und Blumen. Vickis Mutter hatte ein Herz für Tiere und das Geld, das sie als Theaterschauspielerin verdiente, steckte sie komplett in ihren Tiergnadenhof, der bei den Bauern für viel Gelächter sorgte. Kein Mensch konnte einsehen, warum fußlahme Esel und 20 Jahre alte Pferde, samt einäugiger Hasen und zahnloser Hunde nicht eingeschläfert werden sollten, sondern nutzlos auf der Wiese stehen durften, um sich von der Sonne
bescheinen zu lassen.
Ja, die Liesens waren wirklich eigenartig.
»Mein Vater hatte nix am Hut mit seiner Herkunft und hat das ›von‹ aus unserem Namen streichen lassen. Für ihn war das bourgeoiser, reaktionärer Schwachsinn, weiter nichts.«
»Und du? Nennst dich jetzt wieder so?«
»Na ja, eigentlich nicht«, sagt sie und kratzt sich am Kopf. »Also, ich renne jetzt nicht herum und sage allen, dass ich Victoria von Liesen heiße, aber meine Agentin war der Meinung, das mache sich besser.«
»Deine Agentin?«, sage ich und kichere albern. »Ist das so eine Art 007, die dich vor einem internationalen Komplott beschützt?«
»Du hast wohl zu viel James Bond geguckt?«, lacht Vicki. »Ich rede von meiner Literaturagentin .«
»Und was ist das jetzt?«
Ich lese ja viel, aber davon habe ich noch nichts gehört. Zwei Minuten später bin ich aufgeklärt, aber mein Staunen ist nicht kleiner geworden.
Vicki ist Schriftstellerin.
Ihr erster Roman ist vor ein paar Tagen bei einem großen Publikumsverlag erschienen. Die Agentin hat ihr geholfen, den Verlag zu finden, und kümmert sich um den ganzen geschäftlichen Teil der Veröffentlichung. Da habe ich mal wieder dazugelernt.
»Liest du mir mal vor, was du so schreibst?«, frage ich und fächele mir aufgeregt Luft zu.
Ich wohne bei einer echten Autorin. Das ist ja ein Hammer!
Mein Leben steckt neuerdings voller Überraschungen. Schon wieder ist mir ein Mensch begegnet, der überhaupt kein großes Aufheben um sich macht und ganz im Stillen eine richtig spannende Person ist. Man weiß nie, wen man so trifft. Ich lerne gerade, die Augen offenzuhalten und nicht zu schnelle Urteile über andere Leute zu fällen. Vielleicht ist der Mann, der vor dem Supermarkt die Obdachlosenzeitung verkauft, in Wirklichkeit ein Millionär, der mal was Neues erleben will!
»Gern«, antwortet Vicki und ihr
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