Glückskind (German Edition)
legt sich ganz dicht an Felizia, legt seine Arme schützend um sie, es ist dunkel, jetzt kommt gleich der Schlaf und morgen ist alles anders, Felizia. Marie.
Der Schlaf will nicht kommen. Hans’ Kopf sucht fieberhaft nach einem Ausweg für ein Problem, das noch niemand zur Sprache gebracht hat. Er kann nicht still liegen, er wälzt sich hin und her und versucht, Felizias Schlaf nicht zu stören. Maries Schlaf. Hans muss eine Lösung finden. Er denkt: Welcher ist ihr wahrer Name? Die Behörden kennen sie als Marie M., sie suchen ihre Leiche, und fast wünscht Hans, sie fänden eine andere Babyleiche, Es gibt so viele Leute, die ihre Kinder wegwerfen, ständig hört und liest man davon, denkt Hans, dann würden sie aufhören, nach seiner Felizia zu suchen, die friedlich neben ihm schnauft, die vielleicht träumt, Wovon träumst du, kleines Mädchen, denkt Hans und beugt sich ganz dicht über sie und denkt plötzlich: Vom Müll.
Er rollt sich auf den Rücken und drückt beide Handballen gegen seine Schläfen, als könne er diese wild gewordenen Gedanken herauspressen wie Saft aus einer Frucht. Aber es geht nicht, Hans lässt die Arme sinken, er liegt im Dunkeln und starrt an die Decke. Eine ganze Weile geht das so, kein Schlaf, nur eine eigenartige Betäubung, die ihn an etwas erinnert. Und dann fällt es ihm wieder ein: Ja, so ist es, wenn etwas zu Ende geht und man es noch nicht glauben kann, aber doch schon weiß, es gibt kein Zurück mehr. So lange bin ich nun schon ein verlassener Mann, denkt Hans, so lange habe ich nichts anderes daraus gemacht. Und dann ist Felizia zu mir gekommen, und nur weil mir das Fernsehen sagt, dass sie Marie heißt, wird sie mich doch nicht schon wieder verlassen. Hans setzt sich im Bett auf. Er hat nur Angst, mehr ist es nicht. Fast freut er sich darüber, denn es ist ja eine alte Angst, die er einfach behalten hat, wie man ein Andenken behält, das man bei jeder Gelegenheit hervorholt und anschaut, weil es einen erinnert. Daran, dass das Ende lange vor dem Ende begann. Mindestens drei Jahre. Als Hanna aufhörte, mit ihm zu sprechen. Als sie begann, ihn einfach zu ignorieren. Nichts ließ sie sich mehr von ihm sagen. Und Karin gab ihm keine Rückendeckung. Im Gegenteil! Sie unterstützte Hanna sogar! Hans ist noch heute wütend über Karins Hintergehungen. Er legt sich wieder hin. »Nie zogen wir an einem Strang«, flüstert er der Decke zu. »Für sie war es so leicht, die Gute zu sein! Sie musste ja nicht den Alltag mit den Kindern aushalten. Sie kam nach Hause und spielte die Retterin.« Hans kennt alle diese Gedanken, er hat sie tausendmal gedacht. Es ermüdet ihn, sie wieder und wieder zu denken, er fühlt sich wie jemand, der immer denselben Weg geht, seit vielen, vielen Jahren denselben Weg, Marie. Felizia Marie. »Das ist gut«, murmelt Hans noch, »Rufname: Felizia.« Dann schläft er ein.
Hans geht durch ein Gebirge. Er weiß, dass er träumt, er weiß, wo und wie er liegt und träumt. Er geht durch ein rotes Steingebirge, es gibt keinen Strauch und keinen Baum. Er ist auf der Suche. In der Ferne sieht er einen schneeweißen Vulkan, der aussieht wie der Fudschijama. Auf gleicher Höhe wie er selbst, aber getrennt durch weite Täler und rote Felsengipfel. Der Fudschijama hat mit ihm zu tun, das spürt Hans, doch er sucht etwas anderes. Er klettert weiter und stößt auf eine Holztür. Mitten im roten Fels. Hans ist überrascht, er dachte, das Gebirge sei massiv, und jetzt diese Tür.
Hans erwacht. Er fühlt sich, als hätte er gar nicht geschlafen, sondern die ganze Nacht wach gelegen. Und doch ist er erholt. Als er sich auf den linken Ellenbogen stützt, um nach Felizia zu schauen, blickt er in zwei große Augen, die ihn staunend betrachten. So aufmerksam betrachtet Felizia Hans, dass der genauso erstaunt zurückblickt. Und dann lächelt Felizia. Hans lächelt zurück. »Hallo, Felizia«, sagt er leise und vorsichtig, als könne sie über alles erschrecken und dann wäre dieser wunderbare Moment zerstört. Aber so ist es nicht. Als Felizia Hans’ Stimme hört, wird ihr zahnloses Lächeln noch breiter und ihre Augen verformen sich zu zwei kleinen Halbmonden. Das ist so schön, dass Hans immer weiter auf Felizia einredet, und als ihm nichts mehr einfällt, kommen Laute ohne Bedeutung aus seinem Mund, und diese Laute haben einen bestimmten Sinn, den Felizia sehr gut versteht. Sie sind nicht neu, diese Laute, Hans erkennt sie wieder, und das ist das Erstaunlichste, denn es
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